Bildschirm zeigt Abstimmung im Europäischen Parlament
Reuters/Yves Herman
Premiere wegen Coronavirus

EU-Parlament stimmt per E-Mail ab

Das Coronavirus bedeutet eine herausfordernde Zeit für alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und für die EU selbst. Dazu kommen zahlreichen Änderungen bei gewohnten bürokratischen Abläufen. Zum allerersten Mal stimmen etwa am Donnerstag die EU-Abgeordneten per E-Mail ab. Eine Regelung, die bis Juli gehen könnte.

Wenn das EU-Parlament normalerweise abstimmt, dann funktioniert das meistens mit Handzeichen der Abgeordneten, wobei der Sitzungspräsident die Mehrheiten feststellt. Der Grund: Es muss oft schnell gehen, mitunter wird über Hunderte Änderungsanträge an einem Nachmittag abgestimmt. Bei Unklarheiten aber lässt EU-Parlamentspräsident David Sassoli eine elektronische Abstimmung durchführen, um das Ergebnis zu überprüfen. Nicht zuletzt können die Abgeordneten auch in namentlicher Abstimmung votieren, wenn das vorher beantragt wurde.

Soweit also die Regelungen bisher, doch das Coronavirus ändert alles – selbst die Abläufe im Europaparlament, die sich jahrzehntelang etabliert hatten. So soll die Fernabstimmung am Donnerstag Vormittag beginnen. Danach haben die Parlamentarierinnen und Parlamentarier eine Stunde Zeit, ihren Stimmzettel auszudrucken, ihren Namen auszufüllen und am Papier abzustimmen – mit „Dafür“, „Dagegen“ oder einer Stimmenthaltung.

Ungewöhnliche Prozedur

Danach müsse der Stimmzettel unterschrieben, eingescannt oder fotografiert werden, erklärte Markus Winkler, stellvertretender Generalsekretär des EU-Parlaments, den Vorgang in einer Nachricht an die Abgeordneten. „Nur Stimmzettel, die von der offiziellen (E-Mail-)Adresse eines Europaparlamentariers, Ihren Namen und Ihre Stimme leserlich enthalten sowie Ihre Unterschrift, werden als abgegebene Stimmen gezählt“, so Winkler.

Reinigung des Plenarsaals in Brüssel
Reuters/Johanna Geron
Sicherheit geht vor: Für körperlich anwesende Abgeordnete werden die Plätze desinfiziert

Die Möglichkeit, im Plenarsaal in Brüssel zu erscheinen, besteht weiterhin, auch wenn wohl viele Abgeordnete von ihrer physischen Anwesenheit aufgrund der Ansteckungs- und Verbreitungsgefahr des Coronavirus absehen werden. Jene, die auftauchen, „werden ausgedruckte Stimmzettel erhalten und gebeten, dieselbe Vorgehensweise einzuhalten“, gab das EU-Parlament vor. Einziger Unterschied: Sie müssen ihren Stimmzettel nicht erst einscannen oder fotografieren, sondern können ihn in eine dafür vorgesehene Box im Saal werfen.

„Ein Virus kann die Demokratie nicht zu Fall bringen“

„Das Europäische Parlament tut seine Pflicht und wird dies auch weiterhin tun“, sagte Sassoli zum künftigen Prozedere. „Das Parlament muss offen bleiben, denn ein Virus kann die Demokratie nicht zu Fall bringen. Wir sind die einzige europäische Institution, für die die Bürgerinnen und Bürger gestimmt haben, und wir wollen sie auch weiterhin vertreten und verteidigen.“

Ein paar Wochen zuvor hatte das Europaparlament sich schon dazu entschlossen, einen Großteil ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken. „Die jetzigen Vorsichtsmaßnahmen des EU-Parlaments, um die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen, beeinflussen die Prioritäten der Gesetzgebung nicht“, sagte eine Sprecherin des Europaparlaments.

„Die Kerntätigkeiten werden reduziert, aber gerade deshalb beibehalten, um legislative, budgetäre und Kontrollfunktionen sicherzustellen.“ Bezüglich der E-Mail-Abstimmung ergänzte sie: „Die Ergebnisse aller Abstimmungen, die im Rahmen dieser vorübergehenden Ausnahmeregelung durchgeführt werden, werden in das Protokoll der betreffenden Sitzung aufgenommen.“ Die Ergebnisse sind öffentlich einsehbar und können von den Abgeordneten kontrolliert werden.

EU-Abgeordneter sorgt sich um Sicherheit

Patrick Breyer, EU-Abgeordneter der deutschen Piratenpartei, äußerte letzte Woche Bedenken über die Sicherheit der Stimmabgabe via E-Mail. „Ein so manipulationsanfälliges Verfahren setzt das Vertrauen in die Integrität von wichtigen Abstimmungen aufs Spiel“, schrieb er auf Twitter. Die Parlamentsmitglieder würden in der Regel über mehrere Geräte dienstliche Mails versenden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten häufig Zugriff. Breyer äußerte die Sorge der Manipulation auch durch Cyberangriffe.

Er forderte daher eine Abstimmung direkt in den Vertretungen des EU-Parlaments in den jeweiligen Mitgliedsstaaten. Via Videochat etwa könne dann besser die Identifikation der einzelnen Abgeordneten festgestellt werden, wenn diese etwa persönlich den Stimmzettel in die Kamera halten würden. Vom Parlament heißt es dazu: „Alle Maßnahmen wurden gesetzt, um die Abstimmung reibungslos ablaufen zu lassen.“ Und: „Sicherheitsmaßnahmen kommentieren wir nie.“

IT-Experte beruhigt

Gegenüber dem Nachrichtenmedium „Techcrunch“ sagte Sicherheitsexperte Alex Halderman, Professor für Informatik und Ingenieurwesen an der Universität von Michigan, eine elektronische Stimmabgabe, bei der die Ergebnisse öffentlich sind, würde ein relativ geringes Risiko darstellen – vorausgesetzt, die Abgeordneten würden prüfen, ob ihre Stimmen ordnungsgemäß aufgezeichnet worden sei. Halderman sagte im US-Senats zur russischen Einmischung in die US-Wahl 2016 aus.

Hinweis zur Schließung des Parlamentsgebäudes
APA/AFP/Kenzo Triboullard
Besuche hat das EU-Parlament wegen der Coronavirus-Krise ausgesetzt

Die aktuelle europäische Lösung kommentierte er so: „Die Abgeordneten sollten dazu ermutigt werden zu überprüfen, ob ihre Abstimmungen korrekt im Protokoll vermerkt sind, und Alarm auszulösen, wenn es Unstimmigkeiten gibt, aber das ist in diesen schwierigen Zeiten wahrscheinlich eine ausreichende Absicherung.“

Geld für CoV, Geisterflüge und Solidaritätsfonds

Der Abstimmung am Donnerstag gehen Debatten zu mehreren Themen voraus. Zur Abstimmung steht etwa die „Coronavirus Response Investment Initiative“, die den EU-Ländern 37 Milliarden Euro aus dem Kohäsionsfonds zur Verfügung stellt, um die Folgen der Pandemie zu bewältigen. Des Weiteren geht es um einen Legislativvorschlag zur Ausweitung des Anwendungsbereichs des EU-Solidaritätsfonds für Notfälle im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Als nächstes Thema steht ein Vorschlag der Europäischen Kommission zur Beendigung der Geisterflüge, die durch den Ausbruch von Covid-19 verursacht wurden, auf dem Programm.

Die Vorschläge müssen vom Rat gebilligt werden, um in Kraft treten zu können. Die Sitzung am Donnerstag ersetzt die ursprünglich für den 1. bis 2. April geplante Sitzung. Normalerweise finden die Plenartagungen einmal pro Monat – ausgenommen im August – in Straßburg statt, hinzu kommen weitere Tagungen in Brüssel. Die Prozedur der Fernabstimmung ist nun bis 31. Juli vorgesehen. In Straßburg wird bis mindestens September keine Plenarwoche stattfinden, wie der aktuelle Sitzungskalender des EU-Parlaments zeigt. Ort des Geschehen wird bis dahin Brüssel bleiben.