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Positionspapier der Großen Koalition Zum Abschied noch ein »Ja« zur Vorratsdatenspeicherung

Die geschäftsführende Bundesregierung unterstützt die Pläne der EU-Kommission zur Wiedereinführung und Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung. Wie weit Deutschland gehen will, zeigt ein geheimes Positionspapier.
Protest gegen die Vorratsdatenspeicherung (Archivbild)

Protest gegen die Vorratsdatenspeicherung (Archivbild)

Foto: Rainer Jensen/ dpa

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Die bisherige Bundesregierung unterstützt offenbar die Pläne der EU-Kommission  zur Wiedereinführung und Ausweitung der sogenannten Vorratsdatenspeicherung – und zwar in einem weit größeren Umfang als bisher bekannt. Dies geht aus einem aktuellen Positionspapier der Großen Koalition für die entsprechenden Beratungen auf EU-Ebene hervor, das dem SPIEGEL vorliegt.

Ein solches als geheim eingestuftes Papier gibt die vorläufige Position eines Mitgliedsstaats auf EU-Ebene wieder. Es wird den anderen Beteiligten zugeleitet und dient damit als Diskussionsgrundlage. Trotz der derzeit laufenden Koalitionsgespräche von SPD, FDP und Grünen ist das betreffende Dokument immer noch relevant, da die Beratungen zu den im Juni vorgelegten Kommissionsplänen auf EU-Ebene weiterlaufen und auch die bisherige Bundesregierung immer noch geschäftsführend tätig ist.

Danach spricht sich die Große Koalition nicht nur dafür aus, die Vorratsdatenspeicherung EU-weit wiedereinzuführen, sondern auch dafür, sie – wie von der Kommission geplant – auf Videotelefonie und Videokonferenzen sowie Messengerdienste wie WhatsApp auszuweiten, die bisher noch nie davon erfasst waren. Das ginge selbst über die für nichtig erklärte EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und auch über nationale Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung weit hinaus.

Ebenso erfasst würden Verbindungsdaten bezüglich E-Mails; dies war zwar schon einmal vorgesehen, ist aber im zweiten, derzeit nach Gerichtsentscheidungen ausgesetzten deutschen Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung von 2015 nicht mehr gefordert. Man komme zu dem Ergebnis, »dass der europaweite Ansatz nicht aufgegeben werden sollte«, heißt es in dem Papier, und sei dafür, den inhaltlichen »Ansatz der Kommission aufzugreifen«.

Vorratsdaten auch zum »Schutz der nationalen Sicherheit«

Außerdem befürwortet Deutschland in dem Positionspapier eine Vorratsdatenspeicherung auch für IP-Adressen und weitere zugehörige Daten, die jeden Klick nachvollziehbar und damit alle Internetnutzerinnen und -nutzer gläsern machen würden. »Um die Identifizierung von Internetnutzern zu ermöglichen«, heißt es in dem Papier, »ist es erforderlich, nicht nur die IP-Adresse, sondern auch den Zeitstempel und, wo einschlägig, die zugewiesene Portnummer zu speichern«.

Offen zeigt sich die Große Koalition auch dafür, die Vorratsdatenspeicherung von Verbindungen und Standorten nicht nur auf bestimmte Personenkreise oder Regionen zur Verfolgung schwerer Straftaten beschränkt zu erlauben, sondern auch eine flächendeckende Speicherung und Abfrage dieser Daten zum »Schutz der nationalen Sicherheit« zuzulassen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat allerdings nur in Ausnahmesituationen, wie etwa einem drohenden Terroranschlag, eine pauschale Vorratsdatenspeicherung aus Gründen der »nationalen Sicherheit« vorübergehend erlaubt.

Darüber hinaus äußert die Große Koalition ihre Hoffnung, dass der EuGH seine Rechtsprechung aufweicht und neben der Speicherung von Daten zu bestimmten Personen oder bestimmten geografischen Gebieten auch eine flächendeckende Vorratsspeicherung kompletter Datenkategorien zulassen würde. Die EU-Kommission geht bereits davon aus, dass Daten an Orten »überdurchschnittlicher Kriminalität« auf Vorrat gespeichert werden dürften, ebenso die Kommunikation und Bewegungen der Menschen in »wohlhabenden Wohngebieten«, Kirchen, Schulen, Einkaufszentren und sogar die von Demonstrationsteilnehmern.

Schließlich stellt sich die Große Koalition in dem Papier auf EU-Ebene weiterhin gegen das sogenannte Quick Freeze, also eine erst nach einem bestimmten Ereignis, etwa einer schweren Straftat erfolgte Anordnung zur Datenspeicherung, obwohl diese geringeren Anforderungen unterliegen könnte, als eine Herausgabe von auf Vorrat gespeicherten Daten.

Millionen Menschen »unter Generalverdacht gestellt«

Der Piraten-Politiker und Europaabgeordnete Patrick Breyer kritisiert die in dem Papier zutage tretende Haltung der immer noch geschäftsführenden Bundesregierung: »Diese Pläne der EU-Kommission könnten Millionen unschuldiger Menschen betreffen«. Touristen und Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel würden »unter Generalverdacht gestellt«, wenn ihre Daten künftig an bestimmten Orten pauschal auf Vorrat gespeichert werden könnten; in Parlamenten würden Abgeordnete total erfasst, in Gerichten das Anwaltsgeheimnis verletzt.

Die vermutlich größte Gefahr gehe von der IP-Vorratsdatenspeicherung aus, so Breyer, »die es dem Staat ermöglichen würde, die private Internetnutzung von Normalbürgern auf Monate hinaus zu durchleuchten und Pseudonyme aufzuheben«. Gerade die IP-Adressen seien besonders anfällig für falschen Verdacht, etwa im Fall öffentlicher WLANs. Straftäter können diese Totalerfassung mit Anonymisierungsdiensten leicht umgehen, aber den Normalnutzer würde sie gläsern machen.

Die von der Bundesregierung unterstützte Datenspeicherung und Zwangsidentifizierung für Messengerdienste oder Videotelefonie gehe selbst über die für nichtig erklärte EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und auch über entsprechende nationale Gesetze weit hinaus, so Breyer: »Das droht wirklich jeden vertraulichen Kontakt zu treffen«.

Mit der Ausdehnung der Vorratsdatenspeicherung auch auf den Schutz nationaler Sicherheit drohe die EU-Kommission, unterstützt von der bisherigen Bundesregierung, diese vom EuGH zugelassene Ausnahme zur Regel zu machen. »Mit immer und überall bestehenden ›Risiken‹ könnte die Vorratsdatenspeicherung leicht zum Dauerzustand werden; dies pervertiert die EU-Rechtsprechung zum Schutz unserer Grundrechte auf Privatsphäre und Meinungsfreiheit«.

Die »schädlichste Altlast der Großen Koalition«

Anlässlich der Koalitionsverhandlungen zum Thema Justiz und Inneres, die am heutigen Mittwoch beginnen, fordern elf Bürgerrechts- und Berufsverbände derweil in einem offenen Brief an die Verhandler von SPD, Grünen und FDP, diese sollten »ein Ende des Gesetzes zur verdachtslosen Vorratsspeicherung von Verbindungs-, Standort- und Internetdaten durchsetzen«. Zu den Unterzeichnern gehören der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, die Deutsche Aidshilfe, der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein und der Deutsche Journalisten-Verband.

Die »verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung« ist ihnen zufolge die »schädlichste Altlast der Großen Koalition« und »die am tiefsten in die alltägliche Privatsphäre eingreifende und unpopulärste Massenüberwachungsmaßnahme, die der Staat jemals hervorgebracht hat«.

Die Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat, zur späteren Strafverfolgung, ist seit 2006 durch eine EU-Richtlinie vorgesehen . Der EuGH jedoch hat diese im April 2014 wegen Verstoßes gegen in der Europäischen Grundrechtecharta normierte Grundrechte für ungültig erklärt . Die Geltung der nationalen Umsetzungsgesetze blieb davon aber unberührt. Das ursprüngliche deutsche Umsetzungsgesetz wurde 2010 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt . Ein 2015 von der damaligen Großen Koalition beschlossenes neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung wurde nach einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster zunächst ausgesetzt und schließlich vom Bundesverwaltungsgericht 2019 dem EuGH zur Prüfung vorgelegt . Eine Entscheidung des EuGH dazu steht noch aus.

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