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“Unnütz, stigmatisierend, kontraproduktiv”: Experten fordern Abschaffung der Gefahrengebiete in Schleswig-Holstein [ergänzt]

Freiheit, Demokratie und Transparenz Gesetzentwürfe Juristisches Landtag

Gefahrengebiet CC BY-NC 2.0 ubiquit23Unnütz, stigmatisierend, kontraproduktiv – die Urteile der Experten über die Gefahrengebietsermächtigung des ehemaligen Innenministers Dr. Stegner fallen vernichtend aus. Juristen, Datenschützer und Anti-Diskriminierungsverbände lehnen verdachtslose Jedermannkontrollen nahezu einhellig ab. Damit bestärken die Experten uns Piraten in unserem Gesetzesantrag zur Abschaffung von Anhalte- und Sichtkontrollen in Grenz- und “Gefahrengebieten” in Schleswig-Holstein. SPD, Grüne und SSW haben bis heute keinen Nachweis dafür vorlegen können, dass auch nur ein Gefahrengebiet seinen Zweck erfüllt hätte. Die Spekulation auf Zufallsfunde rechtfertigt ein ungezieltes Stochern in unserer Privatsphäre nicht.
Während die Polizeigewerkschaften Änderungen erwartungsgemäß als einzige ablehnen, sprechen sich alle anderen Experten für einen Verzicht auf Gefahrengebiete aus oder fordern Einschränkungen:

  • Gefahrengebiet CC BY-NC-SA 2.0 chicitolocoBrisanterweise fordert selbst die SPD-Jugendorganisation Jusos die Aufhebung des permanenten Gefahrengebiets in Küstennähe und will “eng umgrenzte” Gefahrengebiete nur noch mit richterlicher Zustimmung und für maximal acht Wochen zulassen.
  • Prof. Hartmut Brenneisen vom Fachbereich Polizei der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung sieht Nachbesserungsbedarf in verschiedenen Punkten und weist darauf hin, dass der Innenminister 1997 selbst erklärt habe: “Anlasslose … Kontrollen binden unnütz polizeiliche Ressourcen, ohne dass sie etwas bringen.”
  • Der Verwaltungsrichterverband äußert generell “verfassungsrechtliche Bedenken” und stellt die “Geeignetheit von Anhalte- und Sichtkontrollen für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten” in Frage.
  • Auch Dr. Ernst von der Bucerius Law School warnt vor einer “sehr geringen Erfolgsrate” und spricht von einer “stigmatisierenden anlassunabhängigen Kontrolle”.
  • Der Strafverteidigervereinigung seien konkrete Fälle bekannt geworden, in denen die Polizei Kontrollen zur Strafverfolgung als Anhalte- und Sichtkontrolle “legendiert” (ausgegeben) habe.
  • Der Landesdatenschutzbeauftragte hält Gefahrengebiete zwar nicht per se für verfassungswidrig, begrüßt das Ziel des Gesetzentwurfs aber aus datenschutzrechtlicher Sicht. Verdachtslose Kontrollen führten “zu Nachteilen und Risiken für unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger“. Es würden bereits Computerprogramme getestet, um Gefahrengebietskontrollen wegen Einbruchsdelikten zu steuern (“predictive policing”).
  • Der Hamburgische Datenschutzbeauftragte begrüßt den Gesetzentwurf und moniert insbesondere, dass Gefahrengebietsanordnungen nicht veröffentlicht werden. Nur so könnten Bürger solche “Sonderzonen” meiden und bestimmte Gegenstände zuhause lassen. Eine geheime Gebietsausweisung erscheine sogar “kontraproduktiv, da sich hieraus gerade keine Abschreckungswirkung für Störer bzw. potentielle Straftäter ableiten lässt”.
  • CC BY-NC-ND 2.0 txmx2Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland fordert eine ersatzlose Streichung der Gefahrengebietsermächtigung. Solche Gesetze seien “Einfallstore für Racial Profiling“, die “auf eine
    diskriminierende Polizeipraxis angelegt” seien.
  • Auch der republikanische Anwaltsverein kritisiert, verdachtslose Kontrollen führten “in der Praxis häufig dazu, dass die Norm in diskriminierender Art und Weise angewandt werden”.
  • Amnesty International moniert: “Eine gegen das verfassungs- und völkerrechtliche Diskriminierungsverbot verstoßende Anwendung ist … bereits in der Norm angelegt.”
  • Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz ECRI kritisiert, Kontrollen ohne Verdachtsmomente beförderten “diskriminierende Praktiken”. Sie empfiehlt, “das Erfordernis vernünftig begründeten Verdachts einzuführen, dem zufolge die mit Kontrolle, Überwachung und Ermittlungen zusammenhängenden Befugnisse der Polizei nur auf Grund von Verdachtsmomenten wahrgenommen werden dürfen”. Dies würde das Aus für die verdachtslosen Jedermannkontrollen in Gefahrengebieten bedeuten.

Meine Meinung: Die Ausweisung sogenannter ‘Gefahrengebiete’ diffamiert ganze Städte und Regionen als potenziell gefährlich. Solche Sonderrechtszonen darf es in unserem Land nicht geben. Verdachtslose Kontrollen ins Blaue hinein verletzen die Privatsphäre unbescholtener Bürger und werden von uns Piraten deshalb abgelehnt. Dieses ungezielte Stochern im Nebel ist ein völlig ineffizientes Mittel zur Strafverfolgung. Der Innenminister kann nicht einen einzigen Wohnungseinbruchsdiebstahl oder ein ‘Rockerdelikt’ nennen, das durch eine verdachtslose Kontrolle verhindert worden wäre. Untersuchungen zeigen, dass verdachtslose Kontrollen stets die Gefahr einer diskriminierenden Auswahl aufgrund des Aussehens (z.B. Hautfarbe, Herkunft) bergen. Aus all diesen Gründen muss die 2007 von SPD und CDU unter dem damaligen Innenminister Dr. Ralf Stegner eingeführte verfassungswidrige Ermächtigung zur ‘Schleierfahndung’ in Schleswig-Holstein abgeschafft werden. Die damaligen Anti-Terror-Sondergesetze sind heute überflüssig und schädlich.
Der Innen- und Rechtsausschuss wird sich in den nächsten Wochen weiter mit unserem Gesetzentwurf zur Abschaffung der Gefahrengebiete beschäftigen.
Die Stellungnahmen der Sachverständigen im Wortlaut
Ergänzung vom 23.02.2016:

  • Das Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung kritisiert, die “nahezu tatbestandslose” Eingriffsermächtigung begünstige eine Rechtsanwendung, die “von gesellschaftlichen Stigmata – insbesondere mit Blick auf die Hautfarbe, ethnische und religiöse Zuschreibungen der Grundrechtsträger – getrieben ist“.
  • Das Institut für Menschenrechte weist auf eine Statistik der Bundespolizei hin, derzufolge nur 1% der verdachtslosen Kontrollen den Verdacht einer Straftat der gesuchten Art ergaben.
  • Der ehemalige nordrhein-westfälische Innenminister Dr. Burkhard Hirsch hält das Gesetz zu Gefahrengebieten für verfassungswidrig und gibt zu bedenken, dass Nordrhein-Westfalen trotz zahlreicher internationaler Grenzen ohne verdachtsfreie Kontrollen auskommt.

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