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Angeblich  “gezielte” Vorratsdatenspeicherung: Online-Karte zeigt, was die belgische Regierung vertuschen will

Allgemein

Am Donnerstag, 9. Juni 2022 wird das belgische Parlament in einer Ausschuss-Sitzung über den neuen Entwurf für ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung abstimmen (Termin TBA) [1]. Das frühere Gesetz war vom Verfassungsgericht gekippt worden. Der neue Entwurf enthält unter anderem [2] eine vorgeblich “geografisch gezielte Regelung zur Vorratsdatenspeicherung.

Mit einer interaktiven Karte [3] demonstriert der EU-Abgeordnete Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei, Fraktion Grüne/EFA), dass die geplante “gezielte” Vorratsdatenspeicherung in der Praxis das gesamte Staatsgebiet und die gesamte Bevölkerung erfassen wird.

Der Gerichtshof der Europäischen Union legte zuletzt im April in einem Urteil fest, dass anlasslose und generelle Vorratsdatenspeicherung von Verbindungs- und Bewegungsdaten gegen das Grundrecht auf Privatsphäre verstößt [4]. Im Mai haben Breyer [5] und die belgische NGO Ligue des droits humains [6] kritische Stellungnahmen zum geplanten Gesetz, mit dem der Gesetzgeber die Urteile des EuGH eiumsetzen möchte, an das belgische Parlament übermittelt.

Die Online-Karte im Detail erklärt: wie die belgische Regierung die Vorratsdatenspeicherung einsetzt

Breyer warnt: „Der belgische Gesetzesentwurf ist ein gefährlicher Präzedenzfall für eine neue Generation von Gesetzen zur Vorratsdatenspeicherung. Datengierige Überwachungsbehörden versuchen höchste Gerichtsurteile zur Illegalität von verdachtsloser Vorratspeicherung von Kommunikations- und Bewegungsdaten zu umgehen. Auf den ersten Blick erscheinen die Überwachungspläne gezielt, aber wer genau hinschaut, erkennt, dass die Pläne das Ziel verfolgen, vollständige Massenüberwachung beizubehalten.“

Pläne verletzen die Rechte der Bürgerinnen und Bürger

Am 10. Juni 2022 veröffentlichte die Europäische Kommission ein Arbeitspapier, in dem sie den Mitgliedstaaten Ideen unterbreitete, wie eine maximal umfangreiche Vorratsdatenspeicherung durchgeführt werden kann [8], ohne die vom EuGH in seinen zahlreichen Urteilen vorgegebenen roten Linien zu überschreiten. Einer dieser Vorschläge ist die der “gezielten” Ansatz zur Vorratsdatenspeicherung. Die belgische Regierung plant mit ihrem Gesetzesentwurf eine Umsetzung, die möglichst große Teile der Bevölkerung erfassen soll.

In einem im April veröffentlichten Rechtsgutachten hat der ehemalige EuGH-Richter Prof. Dr. iur. Vilenas Vadapalas [9] festgestellt, dass eine Erfassung aller Gebiete mit überdurchschnittlich hoher Kriminalitätsrate nicht mit den vorhandenen Werten und der Rechtsprechung vereinbar sei. Er unterstreicht, dass in einem Gebiet eine “hohe” (nicht nur überdurchschnittliche) Häufigkeit schwerer Straftaten vorliegen muss, um den Einsatz der Vorratsdatenspeicherung zu rechtfertigen.

Gebiete mit niedriger Kriminalität erfasst

Nach unseren Berechnungen liegt die durchschnittliche belgische Kriminalitätsrate bei 11 schweren Straftaten pro 1.000 Einwohner im Durchschnitt von drei Jahren. Im Vergleich zum nationalen Durchschnitt liegen die vorgeschlagenen Schwellenwerte (3, 5 und 7), die eine Vorratsdatenspeicherung ermöglichen, also weit unter dem nationalen Durchschnitt, so dass der Vorschlag entgegen der Auffassung des ehemaligen EuGH-Richters sogar Gebiete mit geringer Kriminalität erfassen würde.

“Quick Freeze”-Ansatz: mögliche praktikable Lösung

Unabhängig davon, wie hoch der Schwellenwert sein müsste, um die vom EuGH vorgegebenen roten Linien einzuhalten, ist MdEP Patrick Breyer jedoch der Meinung, dass dieser Ansatz grundlegend falsch ist. Sich auf die Suche nach dem “richtigen” Schwellenwert (oder der “richtigen” Größe der zu überwachenden Gebiete) zu begeben, bedeutet, dass es für die Regierung in Ordnung ist, eine Massenüberwachung über ihre meist unschuldigen Bürger alleine wegen ihres Auenthaltsorts durchzuführen. Stattdessen fordert der EU-Abgeordnete Breyer die Gesetzgeber auf, andere Mittel zu finden, die verhältnismäßiger sind und die Demokratie und die Grundrechte der Menschen weniger beeinträchtigen.

Eine solche verhältnismäßige Lösung wäre der so genannte “Quick Freeze”-Ansatz, wie er in Deutschland diskutiert wird [10]. Quick Freeze bedeutet, dass relevante Daten nur dann gespeichert werden, wenn bei der Zielperson ein hinreichender Anlass vorliegt. Im deutschen Koalitionsvertrag [11] heißt es dazu: “Angesichts der gegenwärtigen rechtlichen Unsicherheit, des bevorstehenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs und der daraus resultierenden sicherheitspolitischen Herausforderungen werden wir die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können.”
Die EU wartet die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über das alte deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung ab, bevor sie möglicherweise über einen neuen Anlauf zur EU-weiten Wieder-Einführung der Vorratsdatenspeicherung entscheidet. In der Zwischenzeit preschen Mitgliedstaaten wie Belgien oder Dänemark mit nationalen Einzelregelungen vor.

Studien zeigen, dass Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung in keinem EU-Land eine messbare Auswirkung auf die Kriminalitätsrate oder die Aufklärungsrate von Straftaten hatten. Auch ohne unterschiedslose Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung bleiben Anfragen nach Kommunikationsdaten selten erfolglos. [12]

Methodik und Daten der Karte

Für diese Karte von Belgien haben wir nur öffentliche Quellen verwendet: Geodaten von Steuerbehörden (bereitgestellt von geo.be [13]), Bevölkerungsdaten von der Statistikbehörde [14] und über 1.000 PDFs mit Kriminalitätsdaten von der Bundespolizei [15].

Wir haben unsere eigene Software geschrieben, um die PDFs zu scannen und die Verbrechenszahlen zu befeien und sie für Maschinen lesbar zu machen. Außerdem haben wir eine Liste mit über 1.000 verschiedenen Arten von Verbrechen, die in den Polizeidaten enthalten sind erstellt und bestimmt, welche davon eine Vorratsdatenspeicherung nach dem dem Entwurf der belgischen Regierung zur Vorratsdatenspeicherung auslösen würden. Indem wir diese Daten miteinander verbunden haben, erhielten wir eine Liste von 13 belgischen Gerichtsprovinzen (arrondissements judicaires) mit der Anzahl der Straftaten und der Bevölkerung in diesem Gebiet, woraus sich schließlich die Karte ergab, die wir hier präsentieren.

Wir berechneten für jede Provinz/Zone:
1000 x Anzahl der Straftaten (gemäß Art. 90ter §§ 2-4) / Bevölkerung

(Die Anzahl der Straftaten war der jährliche Durchschnittswert der Jahre 2018-2020).

Wenn die Ergebniszahl für ein Bundesland über 3 liegt, wird das Gebiet rot dargestellt, in Farbabstufungen sind die anderen Schwellwerte 5 und 7 dargestellt. Für 2021 wurden keine vollständigen Daten in den Polizeistatistiken, die uns zugänglich waren, findbar. All unsere Datensind der Öffentlichkeit zugänglich auf codeberg.org [16] wo die ganze Geschichte über das Abenteuer der Befreiung von belgischen Kriminalitätsdaten zu lesen ist.

Hinweis: Der Gesetzesentwurf enthält konkrete Zahlen lediglich über zwei Gebiete: Brüssel und Charleroi. Im Vergleich dazu sind die Kriminalitätszahlen unserer Karte für Brüssel um etwa 18 % zu hoch und für Charleroi um etwa 12 % zu niedrig. Die Abweichungen zu den Angaben im Entwurf können mit den von den zugänglichen Daten begründet sein. Sie beeinträchtigen aber die wesentliche Aussagekraft der Kartierung nicht, da beide Gebiete auch dann rot gefärbt wären, wenn die Daten genau mit den Zahlen des Vorschlags übereinstimmen würden. Dies ist die erste öffentlich zugängliche Kartierung der Auswirkungen des Vorschlags, und es ist Aufgabe der Regierung, die Berechnungen in Frage zu stellen und genaue Zahlen öffentlich zu machen.

[1] Bekanntgabe erfolgt hier: http://www.lachambre.be/media/index.html?language=fr&sid=55U2787

[2] https://www.patrick-breyer.de/en/tomorrow-belgian-mass-surveillance-proposal-on-data-retention/

[3] https://www.patrick-breyer.de/en/data-retention/#belgium

[4] https://www.patrick-breyer.de/en/patrick-breyer-data-retention-is-dead-stop-trying-to-resurrect-it/

[5] https://www.patrick-breyer.de/en/tomorrow-belgian-mass-surveillance-proposal-on-data-retention/
& https://www.patrick-breyer.de/wp-content/uploads/2022/05/Avis-du-depute-europeen-Patrick-Breyer-concernant-le-projet-de-loi-belge-de-conservation-des-donnees-16.05.22.pdf

[6] https://www.liguedh.be/retention-des-donnees-la-ligue-des-droits-humains-appelle-le-parlement-a-ne-pas-voter-ce-projet-permettant-la-collecte-systematique-des-metadonnees/

[7] https://www.stat.policefederale.be/statistiquescriminalite/
[8] Working paper – Commission services non-paper annexed to the document of Council WK 7294/2021 INIT of 10 June 2021

[9] https://www.patrick-breyer.de/en/comeback-of-data-retention-former-eu-judge-dismisses-commissions-plans/

[10] https://www.euractiv.com/section/digital/news/data-retention-germanys-new-plan-for-a-more-targeted-and-time-limited-approach/

[11] https://www.spd.de/koalitionsvertrag2021/

[12] https://www.patrick-breyer.de/en/study-data-retention-has-no-impact-on-crime/?lang=en
[13] https://www.geo.be/home?l=de

[14] https://statbel.fgov.be

[15] https://www.stat.policefederale.be/statistiquescriminalite/
[16] https://codeberg.org/ulif/crime-map