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Der digitale Hausarrest – wie die EU Familien entmündigen will

Freiheit, Demokratie und Transparenz

Ausgerechnet bürgerliche Parteien unterstützen in Brüssel Pläne zur massenhaften Durchleuchtung privater Nachrichten. Das Vorhaben greift tief in bürgerliche Freiheiten ein. Besonders drastisch sind die Folgen für Chats zwischen Jugendlichen und ihren eigenen Eltern.

Der Kampf um die Chatkontrolle und die Vertraulichkeit unserer Kommunikation ist längst zur Gretchenfrage zum Verhältnis zwischen Staat und Bürger im digitalen Zeitalter geworden. Am 4. Dezember verteidigt EU-Innenkommissar Magnus Brunner (ÖVP) vor dem Europäischen Parlament Pläne, die tief in bürgerliche Freiheiten einschneiden. Besonders bitter für konservative Wähler: Es sind ausgerechnet bürgerlich geführte Regierungen in Berlin und Wien, die diesem Anschlag auf die Privatsphäre in Brüssel zur Mehrheit verholfen haben. Hatte Unionsfraktionschef Jens Spahn im Oktober noch versichert, eine anlasslose Kontrolle von Chats sei so, „als würde man vorsorglich mal alle Briefe öffnen und schauen, ob da etwas Verbotenes drin ist“, und mit ihm und der Union nicht zu machen, sieht die Realität nun anders aus.

Die EU-Regierungen haben einen faulen Kompromiss vereinbart. Die „freiwillige“ Chatkontrolle soll zwar formal im Ermessen der Anbieter liegen, doch das Ergebnis ist dasselbe: Amerikanische Tech-Giganten wie Meta oder Google dürfen massenhaft und verdachtslos unsere privaten Nachrichten durchleuchten. Der Staat privatisiert sein Gewaltmonopol und ernennt US-Konzerne zu Hilfssheriffs. Statt unabhängiger Richter entscheiden fehleranfällige Geheimalgorithmen aus dem Silicon Valley, ob unsere Chats verdächtig sind.

Schuldig bleibt Herr Spahn die Antwort auf die Frage: Was ist diese massenhafte Durchleuchtung anderes als anlasslose Chatkontrolle? Wäre das wahllose Öffnen unserer Briefe in Ordnung, wenn sich die Deutsche Post selbst dazu entschlösse? Das Briefgeheimnis ist nach unserem Grundgesetz „unverletzlich“. Die privatisierte Chatkontrolle bleibt ein Tabubruch in einem Rechtsstaat.

Ausweispflicht für das Internet

Doch im Gesetzentwurf zur Chatkontrolle versteckt sich ein vielleicht noch perfiderer Angriff auf die Freiheit – ein Paragraf, der das Potenzial hat, das Internet, wie wir es kennen, zu zerstören: Die Eröffnung eines E-Mail- oder Messenger-Kontos soll künftig zwingend einen Altersnachweis voraussetzen. Was technisch klingt, ist politischer Sprengstoff. Es bedeutet die Abschaffung des Rechts auf anonyme digitale Kommunikation. Wer künftig WhatsApp, Signal oder auch nur ein simples E-Mail-Postfach nutzen will, muss seinen Ausweis oder sein Gesicht vorzeigen.

Ein Whistleblower, der aus Angst vor Ermittlungen anonym bleiben will, wird sich kaum trauen, einen Journalisten auf Regierungskorruption hinzuweisen, wenn er dafür seinen Ausweis in eine Datenbank hochladen muss. Er wird mundtot gemacht. Investigativjournalismus, anonyme Seelsorge und vertrauliche Beratung in Krisensituationen werden unmöglich. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Internet-Ausweisdatenbanken gehackt werden und Kriminellen Tür und Tor für Identitätsdiebstahl öffnen. Unsere Sicherheit wird hier nicht geschützt, sondern gefährdet. Zudem wird hier ein neues Bürokratiemonster erschaffen. Während die Wirtschaft unter der Last von Auflagen ächzt, werden europäische Tech-Start-ups und Unternehmen gezwungen, komplexe Verifikationssysteme neu zu implementieren.

Der Staat als Super-Nanny

Der Gipfel der Anmaßung ist jedoch der geplante Umgang mit Jugendlichen. Nach dem Willen der EU-Regierungen sollen App-Stores künftig Jugendlichen unter 17 Jahren pauschal die Installation von Apps verweigern, die theoretisch für „Cybergrooming“ missbraucht werden könnten. So sollen Minderjährige vor einem Ansprechen mit sexuellen Absichten geschützt werden. Da dies laut Landesmedienanstalt NRW jedoch auf fast allen Plattformen vorkommt – von WhatsApp über Instagram bis hin zu Online-Spielen –, läuft die Regelung auf ein digitales Kommunikationsverbot hinaus.

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Ein 16-Jähriger dürfte nicht mehr mit seiner Klassenlehrerin, seinem Trainer oder – noch absurder – mit seinen eigenen Eltern chatten. Der Staat maßt sich an, besser zu wissen, was gut für unsere Kinder ist, als die Familien selbst. Das grundgesetzlich geschützte Erziehungsrecht der Eltern wird mit Füßen getreten. Wie reif Eltern ihre Kinder kennen, zählt nicht mehr.

Das ist kein Kinderschutz, das ist ein digitaler Hausarrest. Statt Täter zu jagen, sperrt man die Opfer ein. Das ist die Logik eines übergriffigen Nanny-Staates, der seinen Bürgern misstraut. Wahre Sicherheit entsteht durch starke Familien, nicht durch staatliche Bevormundung, die Teenager in die digitale Isolation treibt. Funktionieren kann das ohnehin nicht: Unsere Kinder werden uns einfach bitten, ihre Handys als Erwachsenengeräte zu registrieren.

Wirkungslose Symbolpolitik

Insgesamt verfehlen diese Maßnahmen ihr Ziel völlig. Schon jetzt warnt der Bund Deutscher Kriminalbeamter vor einer Überlastung durch die Flut automatisierter Chatmeldungen. Fast die Hälfte der gemeldeten Chats sind völlig legal – etwa Urlaubsfotos vom Strand. Für echte Fälle ist keine Zeit mehr, weil Ermittler damit beschäftigt sind, harmlose Bürger zu durchleuchten.

Das Europäische Parlament hat diesen Irrsinn erkannt. Es fordert parteiübergreifend, die Chatüberwachung auf tatsächliche Verdächtige zu beschränken und lehnt eine verpflichtende Alterskontrolle sowie App-Sperren ab. Es setzt auf bürgerliche Prinzipien: Verhältnismäßigkeit und gezielte Strafverfolgung statt Massenüberwachung und Bevormundung Millionen Unverdächtiger.

Doch ohne Unterstützung aus Berlin wird sich diese vernünftige Position in den anstehenden Verhandlungen über den finalen Gesetzeswortlaut nicht durchsetzen. Die bürgerlich geführte Bundesregierung muss sich entscheiden: Will sie den gläsernen Bürger und die Entmündigung der Eltern? Oder besinnt sie sich auf die Werte des Grundgesetzes? Wenn der Staat anfängt, unsere Post öffnen zu lassen und unseren Kindern den Kontakt zur Außenwelt zu verbieten, ist eine rote Linie überschritten. Wir brauchen keine Nanny aus Brüssel – und erst recht keine aus Berlin.

Dieser Gastbeitrag erschien erstmals in der Welt.