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Der mit den Daten tanzt: Interview mit Patrick Breyer | tarnkappe.info [extern]

Freiheit, Demokratie und Transparenz Piratenpartei Presseberichte

Patrick Breyer. Als Jugendlicher fing er im Umgang mit dem C64 Feuer für Computer. Als Jurastudent interessierte er sich für Telekommunikation und insbesondere für die Vorratsdatenspeicherung, worüber er promoviert hat und beim AK Vorrat erstmals öffentlich in Erscheinung getreten ist. 2012 tauschte er seinen Richterstuhl mit einer Karriere als Politiker ein. Breyer ist als Fraktionsvorsitzender der Piraten Mitglied des Landtages Schleswig-Holstein.
Die bisher letzte Etappe seines Kampfes gegen die anlasslose Speicherung von Vorratsdaten ist der Ausgang seiner Klage beim Europäischen Gerichtshof Ende Oktober 2016. Höchst wahrscheinlich muss diese oder die nächste Bundesregierung das Telemediengesetz der aktuellen EuGH-Entscheidung anpassen. Weitere Urteile deutscher Gerichte dazu stehen allerdings noch aus. Das Thema ist in Deutschland somit noch lange nicht ausgestanden.
Das Interview führten Antonia und Lars Sobiraj.

Tarnkappe.info: Das Urteil des EuGH ist eindeutig. Wie schnell muss die Bundesregierung diese Vorgabe eigentlich umsetzen? Ist damit noch vor der nächsten Bundestagswahl zu rechnen?
Patrick Breyer: Die verdachtslose Erfassung der Kontakte und Bewegungen jedes Bürgers „auf Vorrat“ ist schädlich, unverhältnismäßig und europarechtswidrig. Da das deutsche Gesetz noch nicht dem Europäischen Gerichtshof vorlag, ist die Bundesregierung nicht unmittelbar an das Urteil aus dem letzten Jahr gebunden. Sie verletzt unsere Grundrechte so lange wie es irgend möglich ist. In der Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung (VDS) haben wir deshalb beantragt, dass das Bundesverfassungsgericht das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung dem EuGH vorlegen soll.

Vorratsdatenspeicherung: „schädlich, unverhältnismäßig und europarechtswidrig„

Tarnkappe.info: Sind denn die ganzen Klagen, die in Deutschland gegen die VDS angestrengt wurden, jetzt hinfällig?
Patrick Breyer: Nein, weil die schwarz-rote Bundesregierung keinerlei Einsicht zeigt. Durch dieses Verhalten werden sowohl die Bürgerrechte als auch die Wirtschaft massiv geschädigt.
Tarnkappe.info: Was wäre denn die Alternative zu einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, um die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden zu ermöglichen bzw. zu erleichtern?
Serverraum. Foto: Thorsten Korinth, thx!
Internet-Delikte können auch ohne massive Datensammlung aufgeklärt werden.
Patrick Breyer: Die Aufklärungsquote bei Internetdelikten ist auch ohne Vorratsdatenspeicherung überdurchschnittlich hoch. Nach Inkrafttreten der letzten Vorratsdatenspeicherung ist sie sogar zurück gegangen. Dass nicht jede Straftat aufzuklären ist, ist außerhalb des Internet nicht anders. Auch ohne Vorratsdatenspeicherung ist keine Schutzlücke nachzuweisen, wie bereits das Max-Planck-Institut im Auftrag des Bundesjustizministeriums festgestellt hat.
Tarnkappe.info: Was halten Sie vom so genannten Quick-Freeze-Verfahren? Ist dies eine gute Alternative zur VDS?
Patrick Breyer: Eine in die Zukunft gerichtete „Quick-Freeze“-Anordnung auf „Zuruf“ zur Speicherung zukünftiger Verkehrsdaten ist eine gute Alternative. Sie sollte außer Kraft treten, wenn sie  nicht binnen drei Werktagen gemäß § 100g StPO richterlich bestätigt wird. Zu bedenken ist aber, dass auch ohne verpflichtende Vorratsdatenspeicherung bisher fast alle Anbieter freiwillig zur „Störungserkennung“ mindestens eine Woche lang auf Vorrat speichern. Das muss ebenso abgestellt werden.
Tarnkappe.info: Es wird viel getrollt in Foren und im Kommentarbereich von News-Portalen: Diverse Politiker haben in der Vergangenheit immer wieder die Einführung einer Klarnamenpflicht verlangt. Ist dies überhaupt mit dem deutschen Recht vereinbar?

Online-Identifizierungszwang mit unseren Grundrechten unvereinbar.

Patrick Breyer: Ich kämpfe zurzeit vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof für ein Grundrecht auf anonyme Kommunikation, weil eine freie Meinungsäußerung auch zu heiklen Fragen nur im Schutz der Anonymität möglich ist. Deshalb ist ein Identifizierungszwang meines Erachtens mit den Grundrechten unvereinbar.
Tarnkappe.info: Wie sollte oder könnte man dies umsetzen? Dann käme „endlich“ der EPass zum Einsatz, den bislang die wenigsten Deutschen haben wollten.
Patrick Breyer: Einen Klarnamenszwang im grenzenlosen Internet halte ich nicht für realistisch und umsetzbar.

Etablierte Politik missachtet oftmals den Willen der Mehrheit.

Tarnkappe.info: Der Autor Martin Walser sagte gestern bei einem Interview, die AfD würde man in 10 Jahren nicht mehr kennen, sehen Sie das genauso? Warum ist die AfD so viel erfolgreicher als die Piratenpartei? Was machen sie richtig, was falsch?
Patrick Breyer: Wir Piraten sind für Bürger- und Menschenrechte, die AfD will auf Flüchtlinge schießen. Wir Piraten wollen Privilegien und Sonderrechte abschaffen, die AfD will noch weniger soziale Gerechtigkeit (z.B. Steuern für Reiche, Erben und Unternehmen senken, die gesetzliche  Unfall- und Arbeitslosenversicherung auflösen, mehr Überwachung und Geld für Geheimdienste). Die AfD will Macht und Posten für sich, wir Piraten wollen den Bürgern Macht zurückgeben. Die AfD ist Angstpartei, wir Piraten sind Mutpartei. Die AfD bewegt in Parlamenten kaum etwas und ist oftmals faul, wir Piraten verändern beispielsweise Schleswig-Holstein maßgeblich.
Es ist traurig, dass nationalistische Ausgrenzungs- und Sündenbockpolitik einen so großen Resonanzboden finden. Mit dafür verantwortlich ist eine etablierte Politik, die den Willen der Mehrheit vielfach bewusst missachtet und stattdessen Konzerne und Interessengruppen, nicht selbst auch Eigeninteressen schamlos bedient. Ein autoritärer Staat ist aber noch weitaus gefährlicher für unsere Gesellschaft als die vorherrschende Parteienoligarchie. Die richtige Lösung ist daher, dass die Bürger die Politik wieder selbst in die Hand nehmen müssen, besonders durch direkte Demokratie. Dafür kämpfen wir Piraten. Wir machen Politik aus Notwehr.
Tarnkappe.info: In Ihrem Bundesland liegen die Piraten laut der letzten Hochrechnung bei etwa zwei Prozent. Wie kann man den Kahn noch vorm Kentern bewahren?
Patrick Breyer: Wenn Prognosen immer zuträfen, hätte es den Brexit nicht gegeben und Hillary Clinton wäre Präsidentin der USA. Wir Piraten wollen besonders die vielen Bürger überzeugen, die von der etablierten Politik frustriert sind und eine grundlegende Veränderung des veralteten Regierungssystems wollen.
Als einzige Partei wollen wir Piraten die Macht nicht übernehmen, sondern an die Menschen zurückgeben. Ohne uns Piraten im Schleswig-Holsteinischen Landtag wären Skandale wie vertuschter Rassismus an der Polizeischule oder giftiger Bohrschlamm im ganzen Land nie aufgedeckt worden. Reformen wie die Offenlegung von Managergehältern durch öffentliche Unternehmen oder die Einführung von Karenzzeiten für Minister gäbe es ohne uns nicht. Die Platzhirsche im Landtag sind sichtlich von unserer Hartnäckigkeit genervt und haben inzwischen gehörigen Respekt vor unserer Arbeit.

Piraten bei 2%? Unser Schiff ist noch nicht gekentert, andere Prognosen waren auch falsch.
Tarnkappe.info: Als was haben Sie die Piratenpartei wahrgenommen? Als Protestpartei, wie einige Wähler? Hat sich die Partei nicht im Laufe der letzten Jahre weit von ihren anfänglichen Idealen entfernt? Zumindest ist von den alten Mitgliedern kaum noch jemand übrig geblieben.
Patrick Breyer: Mein Kollege Uli König und ich haben gerade Urkunden für unsere zehnjährige Parteimitgliedschaft erhalten. Aber auch später hinzu gekommene Mitglieder kämpfen für Mitbestimmung, Transparenz und Bürgerrechte als zentrale Werte der Piratenpartei. Für mich zeichnet die Piratenpartei aus, dass Bürgerrechte und Digitale Rechte nicht verhandelbare Kernanliegen der Partei sind. Netzpolitiker sind bei uns an der Spitze, nicht in zweiter Reihe.
Tarnkappe.info: Wie geht es bei Ihnen beruflich weiter, sollte der erneute Einzug ins Parlament misslingen. Werden Sie sich dann auf Ihre Karriere als Jurist konzentrieren? Oder was haben Sie vor?
Patrick Breyer: Unabhängig von meiner Arbeit im Landtag bin ich als Datenschutzaktivist unter anderem im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung engagiert und streite in diversen Gerichtsverfahren gegen Vorratsdatenspeicherung, Surfprotokollierung, Prepaid-Identifizierungszwang, Kfz-Massenabgleich und Geheimhaltung von Dokumenten. Mein Blog: daten-speicherung.de
Tarnkappe.info: Der Politiker Rick Falkvinge hat mal geschrieben, niemand habe uns dazu gezwungen, die ganzen Geräte mit denen wir uns freiwillig überwachen lassen (Smartphones, Smartwatches etc.), daheim zu plazieren. Gibt es für die breite Bevölkerung einen Weg zurück, wo uns diese Geräte das Leben doch so viel einfacher machen sollen und auch können?
Patrick Breyer: Niemand sollte auf Lebensqualität verzichten müssen um nicht totalüberwacht und ausspioniert zu werden. Deswegen muss die Entwicklung Digitaler Rechte endlich der rasanten Entwicklung der digitalen Technologie und der Informationsgesellschaft nachgezogen werden. Die bisherigen Versuche dazu auf EU-Ebene sind erbärmlich.
Digitale Selbstverteidigung als erweiterte Medienkompetenz entscheidend.

Fotograf: Oliver Franke, thx!
Tarnkappe.info: Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist ja nur das I-Tüpfelchen, wenn man sich das Vorgehen von NSA & Co. anschaut. Wie kann man sich dagegen wehren? Müssen wir jetzt auf alle technischen Geräte verzichten, damit wir dieser Überwachung effektiv entgehen können?
Patrick Breyer: So wie ein Selbstverteidigungskurs Sinn macht, sollte auch die digitale Selbstverteidigung Bestandteil der Medienkompetenz sein, die man in der modernen Informationsgesellschaft braucht. Anonymisierungsdienste, unter Fantasienamen eingerichtete Konten, Privacy-Add-Ons und ähnliches setze ich wie selbstverständlich ein, um mich zu schützen. Allerdings darf der Staat die Verantwortung nicht einfach auf seine Bürger abwälzen. Die Politik könnte durch wirksame Verschlüsselung auf allen Ebenen viel gegen Massenüberwachung tun – wenn sie dieses Instrument nicht selbst so gerne einsetzen wollte.
Tarnkappe.info: Was glauben Sie, warum setzen sich so viele deutsche Politiker überhaupt für die VDS ein? Und wieso wehrt man sich nicht mehr gegen die Überwachung der US-Geheimdienste?
Patrick Breyer: Einige in Politik und Gesellschaft kultivieren in den letzten Jahren eine Einstellung, die man als Sicherheitsideologie bezeichnen kann. Auf der vermeintlichen Jagd nach dem Bösen ist ihnen jedes Mittel recht – dadurch werden sie Verbrechern immer ähnlicher. Man kann von „Grundrechtsterroristen“ sprechen. Gegen US-Dienste bleibt die etablierte Politik untätig, weil sie unsere Sicherheit abhängig von deren Machenschaften wähnt.

Patrick Breyer: „Der Staat darf seine Verantwortung nicht einfach auf seine Bürger abwälzen.„
Tarnkappe.info: Auch zu Fragen der Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen gehen die Meinungen der Politiker weit auseinander. Erst kürzlich sagte der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki dem Berliner „Tagesspiegel“ (Montagausgabe): „Auf öffentlichen Plätzen brauchen wir eine solche Überwachung nicht.“ Die Bundesregierung allerdings hat gerade einen Gesetzentwurf (Entwurf für ein Videoüberwachungs-verbesserungsgesetz) verabschiedet, der die Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen erleichtert. Zusätzlich arbeitet man daran, Gesichtserkennungs-Software einsetzen zu können. Nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Berlin befürwortet nun auch die Mehrheit der Deutschen (60 %) eine stärkere Videoüberwachung öffentlicher Räume. Wie ist Ihre Meinung zu diesem Thema? Bedeutet für Sie persönlich ein Mehr an Kameras auch ein Mehr an Sicherheit? Wäre es für Sie ein Garant dafür, dass sich Anschläge so von vornherein vermeiden ließen?

Videoüberwachung soll Bürgern lediglich ein Gefühl von Sicherheit vermitteln.

Patrick Breyer: Herr Kubicki ist ein Phrasen dreschender Talkshow-Populist, der die Geheimdienste aufrüsten und Demonstranten videoüberwachen will. Er ist deshalb unglaubwürdig in dieser Frage.
Videoüberwachung ist eine Form der Massenüberwachung, die das Trugbild von Sicherheit erzeugen soll, die sie tatsächlich aber nicht gewährleistet. Studien belegen, dass mit der Zahl der Überwachungskameras weder die Aufklärungsquote steigt noch auch nur die gefühlte Sicherheit zunimmt. Im total überwachten London lebt man unsicherer als ohne Überwachung hierzulande.
Wir brauchen ein Aufklärungsprogramm, um die verbreitete Verunsicherung und Hysterie auf den Boden der Tatsachen und der Kriminalitätswirklichkeit zurückzuführen. In Freiheit gibt es keine totale Sicherheit – in Hochsicherheitssystemen wie Gefängnissen aber noch weniger.
Tarnkappe.info: Herr Breyer, vielen Dank für die Beantwortung unserer Fragen. Wir bedanken uns an dieser Stelle auch bei unseren Lesern, die im Vorfeld mehrere Fragen zu diesem interview beigetragen haben.
P.S.: In diesem Zusammenhang möchten wir auf die spannende Zusammenstellung von Daten-Missbräuchen und Daten-Irrtümern aus aller Welt hinweisen, die von Patrick zusammengestellt wurde.

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