Halbguter neuer polnischer Vorschlag zur Chatkontrolle wird am Mittwoch diskutiert
Polen, das derzeit den Vorsitz im EU-Rat innehat, schlägt eine wichtige Änderung des viel kritisierten EU-Vorschlags zur Chatkontrolle vor: Anstatt die generelle Durchsuchung privater Chats anzuordnen soll die Chatkontrolle wie bisher im Ermessen der Anbieter stehen. Vertreter der EU-Regierungen werden den Vorschlag in der EU-Arbeitsgruppe für Strafverfolgung am Mittwoch beraten.
“Der neue Vorschlag ist ein Durchbruch und im Kampf um unser digitales Briefgeheimnis ein großer Sprung nach vorn”, kommentiert Patrick Breyer (Piratenpartei), ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments und digitaler Freiheitskämpfer. “Der Vorschlag würde sichere Verschlüsselung schützen und damit die Sicherheit unserer Smartphones. Allerdings blieben drei grundlegende Probleme ungelöst:
1. Massenüberwachung: Selbst wenn Anbieter wie Meta, Microsoft oder Google die Chatkontrolle “freiwillig” praktizieren, ist sie immer noch eine völlig ungezielte und wahllose Massenüberwachung aller privaten Nachrichten über diese Dienste. Nach Angaben der EU-Kommission sind etwa 75 % der Millionen privater Chats, Fotos und Videos, die jedes Jahr von den unzuverlässigen Chatkontrollalgorithmen der Industrie geleakt werden, nicht strafrechtlich relevant und lassen unsere intime Kommunikation in die Hände Unbekannter gelangen, bei denen sie nicht sicher ist und bei denen sie nichts zu suchen hat. Eine ehemalige Richterin des Europäischen Gerichtshofs, Ninon Colneric (S. 34 f.), und der Europäische Datenschutzbeauftragte (Abs. 11) haben gewarnt, dass diese wahllose Überwachung gegen unsere Grundrechte verstößt, selbst wenn sie im Ermessen der Anbieter liegt. In Schleswig-Holstein und Bayern sind bereits zwei Klagen gegen diese Praxis anhängig.
Das Europäische Parlament schlägt einen anderen Ansatz vor: Die Telekommunikationsüberwachung soll verpflichtend angeordnet werden können, aber auf Personen oder Gruppen beschränkt werden, die mit sexuellem Kindesmissbrauch in Verbindung stehen. Das Parlament schlägt außerdem vor, dass die Anbieter ihre Dienste durch eine Reihe von Voreinstellungen, Nachfragen und Warnungen sicherer für junge Menschen gestalten müssen.
2. Digitaler Hausarrest: Nach dem von Polen unverändert vorgeschlagenen Artikel 6 könnten Nutzer unter 16 Jahren künftig zu ihrem eigenen Schutz vor sexueller Annäherung alltägliche Apps aus dem App-Store nicht mehr installieren. Dazu gehören Messenger-Apps wie Whatsapp, Snapchat, Telegram oder Twitter, Social-Media-Apps wie Instagram, TikTok oder Facebook, Spiele wie FIFA, Minecraft, GTA, Call of Duty, Roblox, Dating-Apps, Videokonferenz-Apps wie Zoom, Skype, Facetime. Ein solches Mindestalter wäre leicht zu umgehen und würde Jugendliche bevormunden und isolieren, anstatt sie zu stärken.
3. Verbot anonymer Kommunikation: Nach dem von Polen unverändert vorgeschlagenen Artikel 4 (3) wäre es Nutzern künftig nicht mehr möglich, anonyme E-Mail- oder Messenger-Konten einzurichten oder anonym zu chatten, ohne einen Ausweis oder ihr Gesicht vorzeigen zu müssen, wodurch sie identifizierbar würden und das Risiko von Datenlecks entstünde. Dies würde z. B. sensible Chats zum Thema Sexualität, anonyme Pressekommunikation mit Quellen (z. B. Whistleblowern) sowie politische Aktivitäten einschränken.
Alles in allem ist der polnische Vorschlag im Vergleich zu den bisherigen Texten ein großer Fortschritt in Bezug auf unsere Sicherheit im Internet, aber er erfordert noch gravierende Nachbesserungen. Gleichzeitig geht der Vorschlag wahrscheinlich schon zu weit für die Hardliner-Mehrheit der EU-Regierungen und die EU-Kommission, deren Überwachungshunger bisher stets so extrem war, dass sie die Opfer lieber ohne Einigung ganz im Stich lassen als eine verhältnismäßige, gerichtsfeste und politisch mehrheitsfähige Alternative zur Chatkontrolle zu akzeptieren.”