Vor Trilog-Start zur Chatkontrolle: EU-Innenkommissar Brunner stellt sich überraschend gegen EU-Regierungen – Rückenwind für starkes Parlamentsmandat
- Brunner zieht Parlaments-Position dem Ratstext vor und bietet Verlängerung der Übergangsregelung an
- Breite parteiübergreifende Front im EU-Parlament gegen Massenüberwachung und Alterskontrollen
- Lob für Verhandlungsführer Zarzalejos, der alle Fraktionen hinter sich vereint hat
Wenige Tage vor Beginn der entscheidenden Trilog-Verhandlungen über die umstrittene Verordnung zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch (sog. „Chatkontrolle“) hat sich das politische Blatt in Brüssel gewendet. In einer Befragung im Innenausschuss (LIBE) überraschte EU-Innenkommissar Magnus Brunner heute mit der Aussage, er bevorzuge das Verhandlungsmandat des Europaparlaments gegenüber dem Gesetzentwurf der EU-Regierungen (Rat). Dies stärkt dem Chefunterhändler des Parlaments, Javier Zarzalejos (EVP), massiv den Rücken, der eine ungewöhnlich breite fraktionsübergreifende Koalition von links bis rechts hinter seiner Position vereint hat.
Zarzalejos mit starkem Rückhalt gegen Massenüberwachung und verpflichtende Alterskontrollen
Während die EU-Regierungen weiterhin auf massenhafte Chatkontrollen (im Ermessen der Anbieter), verpflichtende Altersverifikationen für alle Nutzer und faktische App-Verbote für unter 17-Jährige drängen, geht das Parlament mit einem klaren Gegenmodell in die Verhandlungen: Gezielte Überwachung nur bei begründetem Verdacht und mit Richterbeschluss, sowie eine klare Ablehnung verpflichtender Alterskontrollen und App-Sperren für Jugendliche.
Javier Zarzalejos, Vorsitzender des LIBE-Ausschusses und Berichterstatter, betonte in der Sitzung, das Parlament gehe mit einem „starken Mandat“ in die Verhandlungen, das „von allen Fraktionen unterstützt werde“.
Der ehemalige Europaabgeordnete und Mitverhandler Patrick Breyer (Piratenpartei) kommentiert: „Es ist das Verdienst von Javier Zarzalejos, das Parlament in dieser entscheidenden Frage geeint zu haben. Mit diesem starken Mandat für Grundrechte und gegen anlasslose Überwachung ist das Parlament bestens gerüstet, um den Regierungsangriff auf das digitale Briefgeheimnis und das Recht auf anonyme Kommunikation abzuwehren.“
Schlagabtausch im Ausschuss: Allianz gegen Überwachung
In der heutigen Sitzung wurde deutlich, wie isoliert die Position der Überwachungsbefürworter ist. Abgeordnete quer durch das politische Spektrum kritisierten die Pläne scharf:
- Marketa Gregorova (Grüne/Piraten) verglich die geplante Chatkontrolle mit dem physischen Öffnen aller Briefe und forderte von der Kommission in den Verhandlungen die Rolle eines „ehrlichen Maklers“.
- Birgit Sippel (SPD) warf der Bundesregierung Täuschung der Öffentlichkeit über das Wesen der “freiwilligen Chatkontrolle” vor und kritisierte das Fehlen belastbarer Zahlen zum Nutzen der Massenscans.
- Jorge Buxade Villalba (PfE) und Mary Khan (AfD) hinterfragten die verpflichtenden Alterskontrollen und die Haftung bei Falschverdächtigungen, durch die Unschuldige ihre Existenz verlieren könnten.
Überraschende Wende der Kommission
Innenkommissar Brunner wies zwar den Begriff „Chatkontrolle“ zurück, setzte aber ein deutliches politisches Signal: Er bot an, die im April auslaufende Übergangsregelung zu verlängern, um den Druck aus den Verhandlungen zu nehmen und eine sorgfältige Einigung zu ermöglichen. Sein offenes Bekenntnis, die Position des Parlaments (Zarzalejos-Bericht) gegenüber der des Rates zu präferieren, ist eine ungewöhnliche Abkehr von der üblichen Kommissions-Linie.
Bundesregierung blockiert Reformen
Während in Brüssel Bewegung in die Sache kommt, scheint die Bundesregierung weiter zu bremsen. Aus der gestrigen Sitzung des Digitalausschusses des Bundestags verlautete, dass die Ampel-Regierung Änderungen an der massenhaften „freiwilligen“ Chatkontrolle ablehnt, wenngleich sie bei Netzsperren und Alterskontrollen Verhandlungsspielraum sieht.
Die Trilog-Verhandlungen sollen in Kürze beginnen. Dank der geschlossenen Haltung des Parlaments unter Zarzalejos stehen die Chancen nun besser, dass die anlasslose Massenüberwachung und das Ende der anonymen Kommunikation durch verpflichtende Alterskontrollen verhindert werden können.
Nachhören: Aufzeichnung der heutigen Sitzung des Innenausschusses des EU-Parlaments (vorspulen zu 10:10 Uhr)
HINTERGRUND: Die Hauptstreitpunkte im kommenden Trilog
In den Verhandlungen prallen zwei gegensätzliche Weltbilder aufeinander: Das Mandat des EU-Parlaments (unter Führung von Javier Zarzalejos) setzt auf gezielte Strafverfolgung und Grundrechte, während die EU-Regierungen (Rat) auf flächendeckende Kontrollen und Altersbeschränkungen drängen.
Hier die drei zentralen Konfliktlinien im Überblick:
1. Massenüberwachung vs. gezielte Ermittlung
- EU-Regierungen (Rat): Wollen die sogenannte „freiwillige“ Chatkontrolle zementieren. Anbieter wie Meta oder Google sollen weiterhin massenhaft private Chats scannen dürfen – und zwar nicht nur nach bekannten Missbrauchsdarstellungen, sondern mittels fehleranfälliger KI auch nach „unbekanntem Material“ und Textnachrichten (Grooming).
- Die Gefahr: Das BKA warnt bereits jetzt vor einer Überlastung durch Falschmeldungen. 2024 waren fast die Hälfte (48 %) der an das BKA gemeldeten Chats völlig legal (z. B. Familienfotos am Strand).
- EU-Parlament: Lehnt anlassloses Scannen ab. Stattdessen soll nur bei begründetem Verdacht gegen einzelne Personen oder Gruppen und nur mit richterlichem Beschluss überwacht werden. Das öffentliche Netz (Public Web) soll proaktiv durchsucht werden, private Kommunikation bleibt privat.
2. Das Ende der Anonymität durch Alterskontrollen
- EU-Regierungen (Rat): Planen in Artikel 4 faktisch eine Ausweispflicht für alle Nutzer von Kommunikationsdiensten. Nutzer müssten künftig ihren Ausweis oder ein Gesichtsfoto hochladen oder eine staatliche „Wallet-App“ nutzen, um E-Mail-, Messenger- und Chatdienste zu verwenden.
- Die Gefahr: Das ist das Ende der anonymen Kommunikation im Netz. Whistleblower, Journalistenquellen oder politische Aktivisten wären nicht mehr durch Anonymität geschützt, da jeder Account einer realen Identität zugeordnet werden könnte oder sie dies befürchten müssten.
- Die Gefahr: Das ist das Ende der anonymen Kommunikation im Netz. Whistleblower, Journalistenquellen oder politische Aktivisten wären nicht mehr durch Anonymität geschützt, da jeder Account einer realen Identität zugeordnet werden könnte oder sie dies befürchten müssten.
- EU-Parlament: Setzt auf „Security by Design“ (sichere Voreinstellungen für Kinder) und lehnt verpflichtende Alterskontrollen für Messenger ab. Die Anonymität im Netz soll gewahrt bleiben.
3. „Digitaler Hausarrest“ für unter 17-Jährige
- EU-Regierungen (Rat): Artikel 6 des Ratsmandats sieht vor, dass Jugendlichen unter 17 Jahren die Nutzung von Apps mit Kommunikationsfunktion untersagt wird, wenn dort ein „erhebliches Risiko“ für Cybergrooming besteht. Da dieses Risiko laut Studien fast überall besteht (von WhatsApp bis Online-Games), droht ein faktisches App-Verbot für Jugendliche.
- EU-Parlament: Lehnt Altersgrenzen und App-Sperren ab. Der Fokus liegt auf Medienkompetenz und sicheren Voreinstellungen statt auf Ausschluss von der digitalen Teilhabe.
Einordnung von Dr. Patrick Breyer (Bürgerrechtler, MdEP a.D.):
„Die Bundesregierung muss sich ehrlich machen: Sie hat der anlasslosen Chatkontrolle zwar verbal eine Absage erteilt, stimmt im Rat aber einer Regelung zu, die US-Konzernen genau diese massenhafte Durchleuchtung unserer Privatsphäre erlaubt. Das Parlament hingegen hat unter Javier Zarzalejos einen grundrechtskonformen Weg aufgezeigt: Gezielte Verfolgung von Tätern statt Generalverdacht gegen die gesamte Bevölkerung. Wenn sich die Bundesregierung nicht bewegt, drohen uns Zustände, in denen die anonyme Aufdeckung von Korruption und anderen Skandalen verstummt und Jugendliche vom digitalen Leben ausgesperrt werden.“
