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Achtung, eine Durchsage: Heute zahlen Sie nur für Ihre Überwachung

Allgemein

79% der Bürger halten es für wichtig, dass öffentliche Verkehrsmittel videoüberwacht werden. Aber wollen sie dafür auch bezahlen?
Nach Auskunft eines schleswig-holsteinischen Bahnunternehmens kostet der Einbau von Videoüberwachung ca. 5.000 € pro Wagen, pro Zug also zwischen 25.000 € und 30.000 €. Wenn ein Unternehmen z.B. 15 Züge mit Überwachungstechnik ausstatten lässt, kostet das bis zu 450.000 € mehr. Bei einem durchschnittlichen Fahrpreis von 10 Euro braucht es 45.000 Fahrgäste, um allein die Kosten der Überwachung wieder einzuspielen. Da in Schleswig-Holstein 38.000 Menschen täglich mit der Bahn fahren, könnten wir also einen Überwachungstag ausrufen: “Heute zahlen Sie nur für Ihre Überwachung.” Nehmen wir doch den 8. Juni, an dem der Roman 1984 erschienen ist. Das passt, denn heute ist der Internationale Aktionstag gegen Videoüberwachung.
Eine bundesweite Umfrage meinerseits hat ergeben, dass in mindestens neun Bundesländern bei der Ausschreibung von Zugverkehren die Videoüberwachung sämtlicher Wagen verbindlich verlangt wird (BW, BL, HH, HE, NDS, NRW, RLP, SH, ST). Politisch wird dies vorwiegend damit begründet, dass man das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste (die sich heute schon zu 91% in Bussen und Bahnen sicher fühlen) erhöhen wolle. Doch funktioniert dies?
Eine Studie im Auftrag des britischen Innenministeriums stellt fest, dass die Sorge, Opfer einer Straftat zu werden, nach Installation von Videoüberwachung nur in zwei von sieben Fällen mehr als allgemein zurück gegangen ist (von 35% auf 27%). Wem die Videoüberwachung bekannt war, fühlte sich sogar deutlich gefährdeter als Personen, die nicht davon wussten. In keinem Fall führte die Installation von Videoüberwachung dazu, dass das allgemeine Sicherheitsgefühl im Vergleich zu nicht überwachten Plätzen zunahm. (Hinweis: Mithilfe einer nicht überwachten Kontrollgruppe wurden von Videoüberwachung unabhängige Veränderungen des Sicherheitsgefühls ausgefiltert. Deutsche Studien operieren meist ohne Kontrollgruppe und führen deshalb allgemeine Verbesserungen des Sicherheitsgefühls oft zu Unrecht auf Überwachungssysteme zurück. Die Kriminalitätsfurcht geht in Deutschland allgemein seit Jahren zurück.)
In Deutschland wurden Menschen gefragt, unter welchen Bedingungen sie sich auf der Straße sicherer fühlen würden. Von allen abgefragten Sicherheitsfaktoren wurde Videoüberwachung am seltensten genannt. Hier die Reihenfolge der Nennung:

  1. Hell beleuchtete Orte
  2. Ort überschaubar
  3. Vertraute Umgebung
  4. Viele andere Personen draußen
  5. Fluchtmöglichkeiten vorhanden
  6. Uniformierte auf der Straße
  7. Notfallsysteme vorhanden
  8. Überwachungskameras vorhanden

Speziell zur Videoüberwachung im öffentlichen Nahverkehr stellten Forscher auch objektiv keinen signifikanten Rückgang von Kriminalität fest. In zwei von vier Fällen ging die Installation von Videoüberwachung mit anderen Sicherheitsmaßnahmen einher, so dass sich ein Zusatznutzen gerade der Überwachung von vornherein nicht überprüfen ließ. (Übrigens wurde bei der Auswertung die Hälfte der Studien verworfen, weil sie wissenschaftlichen Anforderungen an eine aussagekräftige Untersuchung nicht genügten.)
Meine Meinung ist: Die dauerhafte Totalüberwachung von Fahrgästen verletzt deren Persönlichkeitsrechte und ist nach meiner Überzeugung rechtswidrig. Videoüberwachung mindert die Hilfsbereitschaft Anwesender, wird zum Anlass genommen, Sicherheitspersonal abzubauen und bringt immer wieder Unschuldige in Verdacht. Die Kameraüberwachung unbescholtener Bürger ist ein Sicherheitsrisiko. Wichtig für Fahrgäste wären stattdessen eine angemessene Personalpräsenz und die schnelle Erreichbarkeit von Hilfe, aber auch die zeitnahe Beseitigung von Verschmutzungen und eine gute Beleuchtung.

Um etwas mehr Licht in die verworrene Debatte um den angeblichen Nutzen der Fahrgastüberwachung zu bringen, habe ich eine kleine Anfrage an die Landesregierung entworfen (Mitarbeit ist willkommen). Diese soll beleuchten, ob Videoüberwachung in Zügen irgend einen Einfluss auf die Aufklärung von Gewalt gegen Fahrgäste hat (solche Fälle gab es im letzten Jahr übrigens fünf, bei 38.000 schleswig-holsteinischen Bahnfahrern täglich). Die Zeit drängt: Wie ich diese Woche erfahren habe, hat die Landesregierung noch nicht entschieden, ob sie bei der im Herbst anstehenden Ausschreibung des Netzes West (Hamburg-Sylt) eine Videoüberwachung verbindlich vorschreiben wird.
Weitere Informationen:

Kommentare

4 Kommentare
  • vicco

    Ich möchte dazu mal gern ein Kommentar aus Berlin abgeben, denn gerade von hier haben sich ja auch medial viele Ereignisse in den letzten Monaten und Jahren gehäuft.
    Persönlich bin ich ebenfalls kein Freund der wachsenden totalitären Überwachung eines Jeden aber – und dass muss auch gesagt werden – gibt es leider Orte in Deutschland an denen es offensichtlich ein Muss ist, verstärkt auch passive Mittel der Erhebung zu nutzen.
    Ich erinnere da an die sogenannten U-Bahn Schläger von Lichtenberg und Wedding, an den fiegen Totschlag des “Jonny K.” unter dem Fernsehturm und ähnliche Begebenheiten.
    Hier in Berlin fordert die GdP beides, sowohl den Aufbau eines einheitlichen Überwachungsschutzes des ÖPNV als auch die gleichzeitige Aufstockung des Personals an Begleitern in den Bahnen, Bussen und Fähren.

  • Anonym

    @vicco: Weißt du denn von einem Fall, wo die Überwachung tatsächlich gegen einen U-Bahn-Schläger geholfen hat?

  • Anonym

    Den finanziellen Aspekt bei der Überwachung finde ich auch interessant. Ich finde, es sollte mal jemand eine Umfrage machen, wieviel die Leute bereit wären, für die Überwachung zu bezahlen, wenn sie die Wahl hätten zwischen einem nicht-überwachten und einem Zuschlagpflichtigen überwachten Abteil.
    Ehrlich, ich glaube, dass dieser Überwachungswahn nicht nur unsere Freiheit bedroht. Er ist außerdem eine Verschwendung von Steuergeldern, die man anderweitig viel besser einsetzen könnte.

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