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„Denunziationsmaschine“: EU-Parlament befürwortet Massenüberwachung von E-Mail, Messenger und Chats

Europaparlament Freiheit, Demokratie und Transparenz Pressemitteilungen

Am 8. Dezember stimmte der Innenausschuss des Europaparlaments über eine Einschränkung der ePrivacy-Richtlinie zum Schutz privater Kommunikation ab. Mit der Zustimmung akzeptiert das Parlament mit der Begründung “Schutz von Kindern” erstmals die pauschale Durchsuchung der gesamten elektronischen Kommunikation nach etwaigen verbotenen Inhalten – mit katastrophalen Folgen für den Schutz der Privatsphäre und der Datensicherheit in der EU.

Mit der ePrivacy Derogation schlägt die EU-Kommission die verdachtslose Durchleuchtung und Überwachung sämtlicher privater elektronischer Kommunikation zur Suche nach möglichen kinderpornografischen Inhalten vor. Am 10. September 2020 hat sie einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorgelegt. Anbietern von E-Mail-, Chat- und Messengerdiensten soll es demnach gestattet werden, den Inhalt aller privaten Nachrichten verdachtslos nach Kinder- und Jugendpornografie zu durchsuchen. Auf der Suche nach noch unbekannten Darstellungen werden häufig auch Nacktaufnahmen Volljähriger abgefangen. Außerdem sollen Algorithmen Textnachrichten nach “Anbahnung sexueller Kontakte” zu Minderjährigern durchsuchen. Vermeintliche Treffer werden der Polizei angezeigt.

Ein für nächstes Jahr geplantes zweites Gesetz soll dieses Verfahren der Massenüberwachung verpflichtend machen, selbst da, wo bisher sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung private Nachrichten schützt.

Auf Vorschlag des Europaabgeordneten Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei) hat die Fraktion Grüne/EFA ihre ablehnende Position wie folgt begründet:

„Der Vorschlag schützt Kinder nicht, sondern setzt sowohl Kinder als auch Erwachsene gleichermaßen großen Risiken aus und verletzt die Grundrechte von Millionen von Kindern und Erwachsenen. Eine allgemeine und unterschiedslose Analyse des Inhalts der gesamten privaten Korrespondenz unverdächtiger Bürger durch Privatunternehmen ist nicht nur im Hinblick auf das Recht auf Privatsphäre, einschließlich von Kindern und Opfern, inakzeptabel, sondern bedroht besonders die Menschenrechte von Minderheiten, LGBTQI-Personen, politische Dissidenten, Journalisten usw. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist eine permanente automatisierte Analyse der Kommunikation nur dann verhältnismäßig, wenn sie auf Verdächtige beschränkt ist (Rechtssache C-511/18). Diese Bedingung erfüllt der Vorschlag nicht.

Trotz der vorgeschlagenen Verordnung werden diese Praktiken weiterhin gegen das Datenschutzgrundverordnung verstoßen (fehlende Rechtsgrundlage für die Suche privater Akteure nach Straftaten, Unverhältnismäßigkeit). Wie die steigende Zahl der Strafanzeigen von Unternehmen, die diese Methode der allgemeinen Überwachung anwenden, zeigt, wird durch eine solche Massenüberwachung die Verbreitung von illegalem Material nicht eingedämmt, sondern nur weiter in den Untergrund gedrängt, was die Strafverfolgung erschwert.“

 

Patrick Breyer (Piratenpartei) ergänzt:

„Dass Konzerne wie Facebook und Google unsere gesamte private Kommunikation verdachtslos ausschnüffeln und zu Hilfspolizisten gemacht werden sollen, ist beängstigend. Die von organisierter Kriminalität genutzten Kanäle werden so nicht erreicht. Stattdessen bringt diese Denunziationsmaschine Tausende zu Unrecht in den Verdacht einer Straftat. Kinder und Opfer von Straftaten haben ein Recht auf wirksame Hilfe und gerichtsfeste Gesetze statt leere Versprechen, auf geschützte Räume zur Beratung und Selbsthilfe statt Massenüberwachung.“

Aushebelung von Kommunikationsschutz-Gesetz

Der heutige Abstimmung zielt auf eine Änderung der Richtlinie zum Schutz der Internetkommunikation, des Europäischen Codes für elektronische Kommunikation. Der Code hat das Ziel, die Vertraulichkeit von Nachrichten über Messengerdienste, E-Mail-Kommunikation und Internettelefonie zu schützen und das Fernmeldegeheimnis auch auf sie auszuweiten. Die von der Kommission geplanten Gesetzesänderungen hebeln diese Vertraulichkeit wieder aus und schaffen Hintertüren.

Die nächsten Schritte

Mitte Dezember soll das Plenum des Parlaments den Bericht durchwinken. Stimmt das Parlament zu, beginnen die Trilog-Verhandlungen, in denen Vertreter des Parlaments mit dem Rat verhandeln. Inkrafttreten wird das Gesetz voraussichtlich im Januar. Im zweiten Quartal 2021 will die EU-Kommission einen Gesetzentwurf vorlegen, der die Nachrichtendurchleuchtung verpflichtend machen soll.

Die Praxis

Bisher wird die verdachtslose Durchsuchung privater Nachrichten von einigen US-Anbietern praktiziert, etwa von Facebook Messenger, von GMail und outlook.com. Durchsucht werden auch Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken. Die Konzernalgorithmen versenden eine wahre Flut an Strafanzeigen, wobei jedes Teilen gesondert gezählt wird. Nach Angaben der Schweizer Bundespolizei sind 90% der angezeigten Inhalte strafrechtlich nicht relevant.

10 Argumente gegen Massenüberwachung privater Nachrichten

  1. Die Massenüberwachung ist wirkungslos. Die von Jahr zu Jahr steigende Zahl der Meldungen zeigt, dass die Verbreitung von Kinderpornografie auf diesem Weg nicht einzudämmen ist – und verschlüsselte Kanäle werden von vornherein nicht erfasst. Der richtige Weg sind verdeckte Ermittlungen in „Tauschringen“.
  2. Die Massenüberwachung kriminalisiert Minderjährige. 40% der Ermittlungen wegen Besitzes von „Kinderpornografie“ in Deutschland richten sich gegen Minderjährige, die solche Darstellungen aus ganz anderen Gründen teilen als Erwachsene, z.B. aus Unachtsamkeit, aus „Spaß“ oder um Alarm zu schlagen.
  3. Die Massenüberwachung schadet Jugendlichen und Missbrauchsopfern besonders. Jugendliche versenden nicht selten Nacktaufnahmen von sich selbst, die durch solche Algorithmen in falsche Hände zu geraten drohen. Und Missbrauchsopfer brauchen private Kommunikationskanäle, um sich (z.B. von anwaltlich und psychologisch) beraten und helfen zu lassen, um sich auszutauschen und vertraulich Anzeige erstatten zu können.
  4. Die Massenüberwachung erschwert die strafrechtliche Verfolgung von Kindesmissbrauch. Sie verdrängt kriminelle Kommunikation weiter in den Untergrund, wo sie kaum noch zu überwachen ist. Außerdem kann die Gefahr einer Anzeige und der Kontensperrung Nutzer davon abhalten, „Kinderpornografie“ zu melden.
  5. Die Massenüberwachung bedroht sichere Verschlüsselung ohne Hintertüren, denn diese schließt eine Durchsuchung von Inhalten aus. Sichere Verschlüsselung schützt Minderheiten, LGBTQI-Personen, politische Dissidenten, Journalisten usw.
  6. Die Massenüberwachung zeigt Tausende zu Unrecht an. Nach Angaben der Schweizer Bundespolizei sind 90% der über die USA (NCMEC) angezeigten Inhalte strafrechtlich nicht relevant, etwa Urlaubsfotos am Strand mit nackten Kindern.
  7. Die Massenüberwachung privatisiert Strafverfolgung, die in einem Rechtsstaat in die Hände unabhängiger Beamte unter gerichtlicher Aufsicht gehört.
  8. Das Gesetz ist untauglich. Es wird Facebook & Co. nicht erlauben, die Massenüberwachung fortzusetzen. Die geplante Ausnahme von der ePrivacy-Richtlinie lässt die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) unberührt. Nach der DSGVO bleibt die Massenüberwachung mangels Rechtsgrundlage und Verhältnismäßigkeit illegal. Eine von Patrick Breyer eingereichte Beschwerde liegt der Datenschutzaufsicht bereits vor.
  9. Das Gesetz ist grundrechtswidrig und wird vor Gericht keinen Bestand haben. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist eine permanente automatisierte Analyse der Kommunikation nur dann verhältnismäßig, wenn sie auf Verdächtige beschränkt ist (Rechtssache C-511/18, Abs. 192).
  10. Das Gesetz stellt für das Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre einen Dammbruch dar: Wird mit derselben Infrastruktur künftig auch nach Urheberrechtsverstößen, Beleidigungen und geheimdienstlich interessanten Inhalten gesucht werden? Werden zum „Kinderschutz“ künftig verdachtslos auch unsere Smartphones und Rechner durchforstet, verdachtslos Briefe geöffnet und Privatwohnungen zur Erkennung von „Gewalt“ mit „Künstlicher Intelligenz“ verwanzt werden?

 

Das Abstimmungsverhalten der deutschen Europaabgeordneten ist hier abgebildet:

 

Kommentare

5 Kommentare
  • Friedrich Ganser

    Ich finde es ja mal recht Schade das Sonneborn von DIE PARTEI da mit zugestimmt hat, da hätte ich doch eher ein etwas kritischeres Verhältnis zur Überwachung erwartet.

  • Jürgen Feuersenger

    Sonneborn, echt jetzt??? Das erschüttert mich. Jetzt weiß ich gar nicht mehr wen ich noch wählen kann, schade.

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