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Erneut verheerende Bilanz der freiwilligen Chatkontrolle

Freiheit, Demokratie und Transparenz

Der Vorstoß der EU-Regierungen, die Chatkontrolle 1.0 (Verordnung (EU) 2021/1232) zum Dauerzustand zu machen, ist rechtlich und ethisch fahrlässig. Der Evaluierungsbericht der Kommission von 2025 liest sich wie eine Bankrotterklärung: Das Sammeln statistischer Daten hat nicht funktioniert, ein Zusammenhang zwischen Massenüberwachung und Verurteilungen lässt sich nicht belegen, und die Fehlerquoten der Technik sind alarmierend hoch. Eine Ausnahmeregelung, die Grundrechte massiv beschneidet, auf Basis eines Berichts zu entfristen, der die Datenlage selbst als „unzureichend“ bezeichnet, widerspricht allen Prinzipien solider Gesetzgebung.

Die Kritik im Detail

1. Beweislastumkehr statt Fakten

Befund: Die Kommission stellt in ihrem Fazit fest, dass die Datenlage zu dünn ist, um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen wirklich zu beurteilen. Trotzdem folgert sie im gleichen Atemzug: Es gebe keine Anzeichen, dass die Regelung unverhältnismäßig sei.
Kritik: Das ist juristischer Unsinn. Die Kommission argumentiert hier nach dem Motto: „Weil wir nicht beweisen können, dass das Gesetz schadet, muss es gut sein.“ Man kann Grundrechte (wie das Briefgeheimnis) nicht einfach auf Verdacht dauerhaft aushebeln. Wer solche Eingriffe will, muss beweisen, dass sie notwendig und wirksam sind. Diesen Beweis bleibt der Bericht schuldig.

2. Massenüberwachung ohne messbaren Nutzen

Befund: Der Bericht räumt offen ein, dass sich derzeit keine Verbindung zwischen den Meldungen der Provider und tatsächlichen Verurteilungen herstellen lässt. Große Länder wie Deutschland oder Spanien konnten nicht einmal brauchbare Daten zu Verurteilungen liefern.
Kritik: Es bestätigt sich, was Kritiker seit Jahren sagen: Es gibt keinen Beleg dafür, dass das anlasslose Scannen privater Nachrichten signifikant dazu beiträgt, Täter zu fassen. Es werden Millionen Nachrichten gescannt und Hunderttausende Verdachtsfälle gemeldet (über 700.000 im Jahr 2024), aber die Kommission kann nicht sagen, wie viele Täter deswegen verurteilt wurden. Das System produziert vor allem Datenmüll, der die Ermittlungsbehörden lähmt, statt ihnen zu helfen.

3. Fehleranfällige Technik und „Black Box“-Algorithmen

Befund: Microsoft gibt an, gar nicht genug Daten zu haben, um eine Fehlerquote zu berechnen. Der Anbieter Yubo meldet Fehlerquoten von bis zu 20 %. Zudem sind rein menschliche Fehleinschätzungen in diesen Zahlen noch gar nicht enthalten.
Kritik: Dieses Gesetz zu entfristen bedeutet, den Einsatz notorisch unzuverlässiger Technik abzusegnen. Eine Fehlerquote von bis zu 20 % heißt, dass Tausende unschuldige Nutzer unter Generalverdacht geraten, ihre intimsten Nachrichten von Konzernmitarbeitern gelesen und fälschlicherweise an die Polizei weitergeleitet werden. Dass ein Gigant wie Microsoft seine Fehlerquote nicht einmal beziffern kann (oder will), zeigt, dass diese Unternehmen völlig ohne Kontrolle operieren. Die wahre Fehlerquote ist laut BKA und Ex-EU-Innenkommissarin Johansson übrigens weit höher als von der Industrie zugegeben (50-75%).

4. Kontrollverlust der EU

Befund: Nach drei Jahren Chatkontrolle 1.0 herrscht immer noch Chaos. Die Anbieter nutzen die vorgeschriebenen Formulare nicht, und die Mitgliedstaaten liefern unvollständige Daten. Es klaffen riesige Lücken zwischen den Berichten, die das US-Zentrum NCMEC verschickt, und denen, die in den EU-Ländern tatsächlich bearbeitet werden.
Kritik: Die EU hat faktisch keine Kontrolle über diese Überwachungsinfrastruktur. Wenn die Kommission es nicht einmal schafft, eine einheitliche Berichterstattung durchzusetzen, ist das Gesetz gescheitert. Eine dysfunktionale Übergangslösung nun dauerhaft zu machen, ist schlechtes Regieren. Es zementiert einen Zustand, in dem US-Konzerne wie Google und Meta als private Hilfspolizei agieren – ohne wirksame Aufsicht.

5. Ein Auslaufmodell dank Verschlüsselung

Befund: Die Zahl der Meldungen ist 2024 um 30 % eingebrochen. Der Grund: Immer mehr Dienste (wie bei Meta) führen Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ein.
Kritik: Die Verordnung ist technisch längst überholt. Da immer mehr Plattformen auf sichere Verschlüsselung setzen, wird das „freiwillige Scannen“ wirkungslos – es sei denn, man bricht die Verschlüsselung auf (Client-Side-Scanning). Anstatt in gezielte Ermittlungsarbeit und echte Prävention („Safety by Design“) zu investieren, klammert sich die EU hier an ein sterbendes Überwachungsmodell.

6. Blindflug beim Datenschutz

Befund: Die Kommission gibt zu, dass ihr schlichtweg keine Informationen darüber vorliegen, ob die Anbieter die Technologien so datensparsam wie möglich einsetzen.
Kritik: Das Gesetz verlangt eigentlich, dass der Eingriff in die Privatsphäre so gering wie möglich gehalten wird. Wenn die Kommission nun zugibt, dass sie gar nicht weiß, ob das passiert, kommt sie ihrer Aufsichtspflicht nicht nach. Ein Überwachungsgesetz zu verlängern, ohne zu prüfen, ob die Schutzmechanismen überhaupt greifen, ist fahrlässig.

Fazit

Der EU-Rat will hier eine dauerhafte Massenüberwachung durchwinken, die durch vier Punkte gekennzeichnet ist:

  1. Die Technik macht viel zu viele Fehler.
  2. Der Nutzen für Strafverfolgung ist nicht belegt.
  3. Die staatliche Aufsicht versagt komplett.
  4. Durch Verschlüsselung wird die Maßnahme ohnehin zunehmend wirkungslos.

Der Bericht bestätigt die schlimmsten Befürchtungen: Es handelt sich um reine Scheinsicherheit auf Kosten der Bürgerrechte – ein System, das die Kommission laut eigenem Eingeständnis weder vernünftig messen noch kontrollieren kann.

Weiterlesen: chatkontrolle.de