Verheerende Bilanz der freiwilligen Chatkontrolle
Die EU-Kommission hat gestern die seit Monaten überfällige Bilanz der freiwilligen Chatkontrolle veröffentlicht. Mit der Begründung Kinder schützen zu wollen durchsuchen US-Anbieter massenhaft, anlass- und unterschiedslos private Chats, Nachrichten und E-Mails nach verdächtigen Inhalten. Für den Europaabgeordneten und profiliertesten Gegner der Chatkontrolle Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei) ist die Bilanz verheerend:
„Die monatelang verspätete Bilanz der freiwilligen Chatkontrolle entpuppt sich inhaltlich als Luftnummer: Da werden Zahlen zu Verdachtsmeldungen, Identifizierungen und Verurteilungen in den Raum gestellt, ohne dass ein Zusammenhang mit der Chatkontrolle privater Nachrichten belegt ist, weil NCMEC-Meldungen auch auf Nutzermeldungen oder öffentlichen Posts/Webseiten beruhen. Beim einvernehmlichen Sexting die Versender selbstgemachter Nacktbilder zu ‚identifizieren‘, ist keine Kunst und schützt niemanden vor Missbrauch. Damit fehlt jeder Nachweis, dass die eigenmächtige Massenüberwachung unserer privaten Kommunikation durch US-Dienste von Meta, Google oder Microsoft einen signifikanten Beitrag zur Rettung missbrauchter Kinder oder Überführung von Missbrauchtätern leiste. Sie kriminalisiert umgekehrt tausende Minderjähriger, überlastet Strafverfolger und öffnet einer willkürlichen Privatjustiz der Internetkonzerne Tür und Tor.
Im Bericht wird verschwiegen, was Kommissarin Johansson vor den EU-Innenministern jüngst eingeräumt hat: Nur mit jedem vierten ausgeleiteten Privatfoto oder -video kann die Polizei überhaupt etwas anfangen, zu 75% gelangen durch die Chatkontrolle strafrechtlich völlig irrelevante private und intime Bilder und Videos in Hände von Mitarbeitern, bei denen sie nicht sicher sind. 2022 offenbarten die fehleranfälligen Chatkontrolle-Verdächtigungsmaschinen demnach sage und schreibe 750.000 europäische Privatnachrichten ohne jede polizeiliche Relevanz. So wird das digitale Briefgeheimnis mit Füßen getreten!
Die Verordnung zur freiwilligen Chatkontrolle ist obsolet und grundrechtswidrig: Die sozialen Netzwerke als Hostingdienste brauchen zur Überprüfung öffentlicher Posts keine Verordnung. Und die millionenfachen fehlerträchtigen Verdachtsanzeigen aus der Durchleuchtung privater Kommunikation durch Zuckerbergs Meta-Konzern werden durch die angekündigte Einführung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ohnehin demnächst entfallen. Das Rechtsgutachten einer ehemaligen EuGH-Richterin belegt, dass die freiwillige Chatkontrolle grundrechtswidrig ist. Ein Missbrauchsbetroffener und ich klagen dagegen, verhandelt wird am 1. Februar 2024. Dieser Irrweg muss schleunigst vom Tisch!“
Breyer kritisiert die von der EU-Kommission favorisierte Chatkontrolle als solutionistischen Irrweg zum Schutz von Kindern: „Mit ihrem in der freien Welt ungekannten gescheiterten Angriff auf das digitale Briefgeheimis und sichere Verschlüsselung sind die ‚Big Sisters‘ Zensursula und Johansson dafür verantwortlich, dass überhaupt nichts zum besseren Schutz unserer Kinder erreicht wird. Mit ihrer unverbesserlichen Obsession für Massenüberwachung verhindern die EU-Kommissarinnen wirklich wirksame Schutzmaßnahmen etwa durch sichere Gestaltung von Internetdiensten (Security by Design). Missbrauchsopfer haben Politiker verdient, die zu einem effektiven, mehrheitsfähigen, grundrechtskonformen und gerichtsfesten Kinderschutz in der Lage sind – wie es im EU-Parlament parteiübergreifend Konsens ist.“
Patrick Breyer, Elina Eickstädt (Chaos Computer Club) und der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber werden am 29. Dezember auf dem Chaos Computer Kongress einen Vortrag zur Zukunft der Chatkontrolle halten.