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Ex-EuGH-Richterin: EU-Pläne zur flächendeckenden Nachrichtendurchleuchtung (Chatkontrolle) verstoßen gegen Grundrechte

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Zur Suche nach „Kinderpornografie“ will die EU die gesamte private digitale Kommunikation automatisiert durchleuchten und im Verdachtsfall Strafanzeige erstatten lassen (sog. Chatkontrolle). Eine aktuell verhandelte EU-Übergangsverordnung soll Anbietern von E-Mail-, Chat- und Messenger-Diensten dies erlauben, ein für Sommer angekündigter zweiter Gesetzentwurf der EU-Kommission soll dann alle Anbieter dazu verpflichten.

Jetzt hat ehemalige Richterin des Europäischen Gerichtshofes Prof. Dr. Ninon Colneric das Verfahren der Chatkontrolle einer umfangreichen Analyse unterzogen und kommt in ihrem Rechtsgutachten zu dem Ergebnis, dass die EU-Gesetzesvorhaben zur Chatkontrolle nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stehen und die Grundrechte aller EU-Bürger*innen auf Achtung der Privatsphäre, auf Datenschutz und auf freie Meinungsäußerung verletzen. Der Europaabgeordnete und Bürgerrechtler Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei) hat das Rechtsgutachten in Auftrag gegeben.

In einem Brief fordern Patrick Breyer und weitere Abgeordnete nun die EU-Kommissar*innen Vestager, Jourová, Breton, Reynders und Johansson, ihre Bemühungen zum Schutz vor sexuellem Missbrauch auf die Unterstützung und Koordinierung gezielter Ermittlungen und Prävention sowie die Hilfe für Opfer zu konzentrieren und davon abzusehen, ein System der allgemeinen und wahllosen Überwachung von Online-Aktivitäten zu schaffen oder zu dulden, das private Unternehmen und ihre fehleranfälligen Algorithmen mit der Durchsuchung nach angeblich kriminellen Aktivitäten betraut.

Breyer kommentiert:

„Die haarsträubenden Pläne zur totalen Durchleuchtung unserer privaten Kommunikation mit fehleranfälligen Denunziationsmaschinen führen in eine Sackgasse und haben vor Gericht keine Chance. Eine wahllose Suche ins Blaue hinein ist der falsche Weg zum Schutz von Kindern und gefährdet diese sogar, indem ihre privaten Aufnahmen in die falschen Hände geraten und Kinder vielfach kriminalisiert werden. Der richtige und überfällige Weg wären etwa verstärkte verdeckte Ermittlungen in Kinderporno-Ringe und ein Abbau der jahrelangen Bearbeitungsrückstände bei Durchsuchungen und Auswertungen beschlagnahmter Datenträger durch die Polizei.“

Zum Hintergrund:

Die EU-Kommission plant, noch vor der Sommerpause einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der Anbieter gesetzlich verpflichtet, Online-Dienste generell auf mögliches Material zur sexuellen Ausbeutung von Kindern zu durchleuchten und Nutzer*innen an die Strafverfolgungsbehörden zu melden. Zu diesem Vorschlag läuft eine öffentliche Konsultation, derzufolge auch das verpflichtende Scannen verschlüsselter Kommunikation erwogen wird und damit die Abschaffung sicherer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung drohen könnte.

Gestern Nachmittag hat der vierte Trilog zwischen Kommission, Rat und Parlament stattgefunden. Nachdem die Parlamentsmehrheit (außer Grüne/EFA und Linke) der flächendeckenden Durchleuchtung zugestimmt hat, werden in den laufenden Verhandlungen auch noch die wenigen vom Parlament ursprünglich geforderten Auflagen (z.B. maximale Fehlerquote der Algorithmen, Ausnahme für Berufsgeheimnisse) schrittweise abgebaut.

Tausende Falschmeldungen

Gegen das Verfahren der flächendeckenden Chatkontrolle haben sich unter anderem der Bundesdatenschutzbeauftragte, die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein ausgesprochen. Auch ein Missbrauchsopfer kritisiert das Vorhaben, weil es Opfern Kanäle zur vertraulichen Beratung, Therapie und Hilfe nehme. Im vergangenen Jahr wurde bekannt, dass US-Dienste wie GMail, Facebook Messenger, Outlook.com und X-box bereits seit Jahren private Nachrichten durchleuchten und tausende von Strafanzeigen versenden, von denen allerdings 86% unschuldige Nutzer fälschlich der Kinderpornografie bezichtigen.[1]

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