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Gott in die Verfassung? Schleswig-Holstein entscheidet diese Woche

Freiheit, Demokratie und Transparenz Gesetzentwürfe Landtag

Am Freitag dieser Woche entscheidet der schleswig-holsteinische Landtag über drei Vorschläge zur Änderung der Präambel (Vorwort) zur Landesverfassung. Wenn es nach einer Reihe von Abgeordneten geht, soll erstmals in der Geschichte des Landes der “Glaube an Gott” oder das “religiöse Erbe Europas” Einzug in die Landesverfassung halten. Bisher gilt diese “auf der Grundlage der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Fundament jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit”.
Hier eine Gegenüberstellung der Änderungsvorschläge:
Gottesbezug
Wissenschaftler warnen eindringlich vor diesen Vorstößen als “rückschrittlich, nicht vertretbar, zu unklar”. Die Türkische Gemeinde sorgt sich gar, die vorgeschlagene Formulierung “könnte extremistischen Gruppen, die ein intolerantes, nicht-inklusives Weltbild vertreten, eine ideologische Begründung und politische Legitimation in der Verfassung verschaffen” und ermögliche ihnen damit “ungeahnte Möglichkeiten der Polarisierung und Spaltung”.
Insgesamt liegen inzwischen über 30 Stellungnahmen von Sachverständigen vor.
Einige Auszüge:

  • Prof. Dr. Kreß von der Evang.-Theol. Fakultät der Uni Bonn: Zudem darf die moderne Religionskritik nicht ausgeklammert werden, der zufolge religiöse Rückbindungen den handelnden Menschen von seiner eigenen sittlichen Verantwortung sogar abzulenken drohen. Unbefriedigend bleibt insbesondere die angehängte Wendung „oder aus anderen universellen Quellen gemeinsamer Werte“. Die Worte klappen nach und wirken so, als ob nichtreligiöse Überzeugungen weniger gewichtig oder gehaltvoll wären. … Die vorgeschlagene Ergänzung der Präambel bleibt deshalb missverständlich und vormodern. … wäre dies im säkularen, weltanschaulich-neutralen Staat des 21. Jahrhunderts sozialethisch, rechtsethisch und verfassungspolitisch ein Rückschritt.
  • Giordano-Bruno-Stiftung: Die Behauptung, die Menschenrechte hätten sich „aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ entwickelt, ist nicht nur politisch verheerend, sondern auch empirisch falsch. Denn die Menschrechte sind Ergebnis des „Weltkulturerbes Humanismus und Aufklärung“, das von Menschen aller Zeiten, Kulturen und Kontinente hervorgebracht wurde. Für europäischen Kulturchauvinismus, der auch integrationspolitisch fatale Wirkungen hat, besteht also keinerlei Anlass. … erstens lässt sich zeigen, dass dieses Erbe (nicht zuletzt der europäische „Glaube an Gott“) vielfach im Widerspruch zu den im Text beschworenen Prinzipien „Demokratie und Frieden, Menschenrechte, Freiheit und Toleranz“ stand (man denke etwa an den Dreißigjährigen Krieg, die Hexenverfolgung, Martin Luthers Aufruf zum Niederbrennen der Synagogen oder die radikale Ablehnung der Menschenrechte durch diverse Päpste).
  • Zentralrat der Muslime: Schaffen Sie die Bedingungen dafür, dass Muslime vom Kindergarten über Schule und Hochschule… ihre weltanschaulichen Vorstellungen ausleben und den Ritualen ihres Glaubens gemäß vollziehen können.
  • Laizistische SozialdemokratInnen: Es ist nicht zu erkennen, dass die vorgeschlagene Formel eine Verbesserung des verfassungsgemäßen Wertebezuges ermöglicht, sondern vielmehr den Staat als gegenüber einer übergeordneten Macht verantwortlich sieht.
  • Prof. Dr. Saur, theol. Fakultät Uni Kiel: Die Rede von „universellen Quellen gemeinsamer Werte“ ist sicherlich Zeichen eines Kompromisses, der Ausdruck ist in seiner Bedeutungsweite aber sehr unspezifisch – so lässt sich fragen, ob es ‚universelle Quellen‘ für eine gemeinsame Wertebasis überhaupt gibt und wer die Universalität dieser Quellen eigentlich definiert und trägt.
  • Türkische Gemeinde: Die Autoren und Unterstützer verkennen das politische Risiko, dass von der Formulierung ausgeht, da z.B. die Identitäre Bewegung von einer geschlossenen „europäischen Kultur“ ausgehen, deren „Identität“ angeblich durch „nichteuropäische Einflüsse“ bedroht sei. Die vorgeschlagene Formulierung könnte extremistischen Gruppen, die ein intolerantes, nicht-inklusives Weltbild vertreten, eine ideologische Begründung und politische Legitimation in der Verfassung verschaffen. … Die Formulierung verschafft extremistischen Gruppen eine ideologische Begründung und politische Legitimation innerhalb der Verfassung und ermöglicht ihnen damit ungeahnte Möglichkeiten der Polarisierung und Spaltung.
  • Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften: In dem o.a. Entwurf wird zwar nun auf die Menschenrechte Bezug genommen. Aber es fehlt in dieser Formulierung das klare Bekenntnis zu ihnen als Basis der Verfassung. Sie werden zwar mit aufgezählt als Werte, die es zu sichern gilt, aber sie sind nicht benannt als Grundlage, aus der heraus Demokratie und Frieden, Freiheit und Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität zu stärken sind und damit die Rechtsstaatlichkeit gesichert wird. Gerade die Grundrechte, wie sie im Grundgesetz, in der Grundrechtecharta der Europäischen Union, der Grundrechtekonvention des Europarates sowie in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen aufgeführt werden, bilden eine allgemeine, für jeden Bürger und jede Bürgerin gültige und nachvollziehbare Sammlung von Werten. Sie sind die universellen Werte, auf die sich alle beziehen können und sollen.
  • Humanistische Verband: sie operiert mit einem völlig unbestimmten Wertbegriff: so könnte etwa auch “die Befreiung der Welt von den Un- und Falschgläubigen” ein solcher Wert sein – und die Religionsgeschichte lehrt ja leider bis heute, dass so etwas vorkommt. [D]ie Vorstellung von den “anderen Quellen” unterstellt, dass Verfassungsgrundwerte wie Freiheit und Gleichheit der Legitimation durch eine “Quelle” bedürfen, was aber mit deren eigenständiger Evidenz und deren sich daraus begründenden Geltungsanspruch offensichtlich im Streit liegt.
  • Prof. Dr. Berger, Uni Kiel: Diese Quellen werden in keiner Weise genannt. Es bleibt damit unklar, ob es sich hier um Kants Werke, die Altenburger Skatordnung oder Hitlers Mein Kampf handelt. Ich möchte natürlich in keiner Weise unterstellen, dass letzteres von den Verfassern des Entwurfs intendiert ist, aber eine Formulierung, die derart offen ist, ist unsinnig und einer Verfassung unwürdig. … Die Verortung der Werte, auf die sich unser Gemeinwesen stützt, in der europäischen Geistesgeschichte („Die Verfassung schöpft aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“) ist historisch sicher zutreffend. Indem sie hier in einem normativen Text ausdrücklich genannt wird, hat sie aber eine ausschließende Wirkung auf solche Menschen, die aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen. … teils ausschließenden, teils wenig aussagekräftigen, letztlich unsinnigen und potentiell problematischen Satz…

Der Landtag entscheidet am Freitag nach eingehender Debatte mit 2/3-Mehrheit (Livestream verfügbar).
Position der Piratenfraktion:

  • Die Menschenrechte als bisher gemeinsames Wertefundament in der Verfassung sollen abgelöst werden durch einen religiösen Glauben.
  • Generell sind wir PIRATEN der Überzeugung, dass der Landtag den  Bürgern Verfassungsänderungen nicht überstülpen sollte. Änderungen an  dem für alle gültigen ‘Gesellschaftsvertrag’ sollten stattdessen zur  Volksabstimmung vorgelegt werden.
  • Die Menschenrechte als Fundament jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit  sind wahrhaft universelle, allgemein anerkannte Werte unserer  Gesellschaft. Dieses gemeinsame Fundament durch eine Glaubensfrage zu  ersetzen, die unser Land spaltet, schadet Schleswig-Holstein.
  • Das Zeitalter der Aufklärung und die damals festgeschriebenen Menschenrechte hatten insbesondere die Befreiung des Individuums aus staatlich-religiöser Bevormundung  zum Ziel. Die kirchlichen Würdenträger dieser Zeit bekämpften die Menschenrechtskataloge erbittert als Ausgeburt des Individualismus und  Rationalismus. Christliche Kirchen unterstützten lange Zeit Sklaverei und Folter,  praktizierten die Inquisition, verfolgten Nichtgläubige (‘Heiden’),  diskriminierten Juden, rechtfertigten die Kolonialisierung und  unterstützten Diktaturen. Bis heute lassen Kirchen in der eigenen  Institution Menschenrechte nicht vollumfänglich gelten.
  • Der bestehende Satz ‘…auf der Grundlage der unverletzlichen und  unveräußerlichen Menschenrechte als Fundament jeder menschlichen  Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit’ spiegelt am besten die  gemeinsamen Werte wider, die alle Menschen in unserem Bundesland teilen.”
  • Bekanntlich sind einer NDR-Umfrage zufolge die meisten Schleswig-Holsteiner damit zufrieden, dass kein Gottesbezug in die Landesverfassung aufgenommen wurde (unzufrieden nur 31%).

 

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