Wir nennen es Transparenz
Marina Weisband erklärt in ihrem empfehlenswerten Buch „Wir nennen es Politik“ anschaulich den Wert und die Grenzen einer transparenten Politik. Ich fasse ihre Gedanken zu diesem Punkt hier zusammen, weil der Grundansatz von Transparenz in der politischen Praxis immer wieder auf eine harte Probe gestellt und auch unter Piraten heiß diskutiert wird.
Transparente Entscheidungen sind bessere Entscheidungen
Marina nennt drei Funktionen von Transparenz: Die Qualität politischer Entscheidungen zu erhöhen, verdeckte Einflussnahme und Korruption zu verhindern und die Beteiligung an politischen Prozessen zu ermöglichen.
Politische Ideen und Pläne „möglichst früh“ zu veröffentlichen („im Optimalfall direkt, wenn [die Information] entsteht“), ermöglicht es, andere an ihrer Entwicklung teilhaben zu lassen und dadurch Fehler zu korrigieren, Verbesserungen vorzunehmen oder Gedanken als falsch zu erkennen und zu verwerfen. Transparente Entscheidungen sind deshalb bessere Entscheidungen.
Indem die Öffentlichkeit von Vorhaben erfährt und rechtzeitig darauf Einfluss nehmen kann, schwindet die Macht kleiner Zirkel mit „Herrschaftswissen“. Dies stärke das Vertrauen der Menschen in ihrer Repräsentanten. Marina betont, dass Transparenz nicht einem pauschalen Misstrauen gegen „korrupte“ Politiker entspringt, sondern sie in ihrer Arbeit unterstützen soll. Keine gute Idee soll mehr durch unerkannt gebliebene Fehler ruiniert werden.
Ich wünsche mir klarere Regeln nicht, weil ich Politiker gängeln will oder sie für schlechte Menschen halte, im Gegenteil. Eindeutige Erwartungen und Grenzen können ihnen die Arbeit erleichtern. Wir können Menschen in Machtpositionen Orientierung und Entlastung geben.
Wir sind auf Laien angewiesen
Unterstützung kann nicht nur von Experten kommen, sondern auch von Laien.
Wir sind auf Laien angewiesen, weil sie Fehler in vorhandenen Systemen schneller erkennen und naiv Fragen stellen. Laien werden umso wichtiger, wenn Umstände sich verändern. […] In unserem Unwissen erkunden wir [die Welt] regelmäßig neu und finden neue Ideen, wie wir damit umgehen können. […] Fast ohne Erfahrung. Aber mit vielen, vielen frischen Ideen und mit viel Motivation.
Der erste Grund für Transparenz habe allerdings nichts mit der Frage zu tun, ob sie sinnvoll ist oder nicht. Es sei ein moralischer Anspruch, dass nichts von dem, was im Namen des Bürgers geschieht, dem Bürger „im Normalfall“ vorenthalten werden dürfe.
Transparenz und Informationsüberfluss
Drei Argumente werden immer wieder gegen Transparenz ins Feld geführt: Mit Rohdaten könnten die Menschen nichts anfangen. Die meisten Menschen wollten sich nicht beteiligen, so dass die Informationen nicht benötigt würden. Und der politische Gegner könne die Informationen auf unerwünschte Weise verwenden.
Auf das Argument des Informationsüberflusses entgegnet Marina, dass Rohdaten durch aufbereitete Informationen ergänzt, nicht aber ersetzt werden sollten.
Parlamentarier und Verwaltung argumentieren sehr gern mit der Informationsflut und bestehen darauf, ihre ausgehenden Informationen selbst vorzufiltern. Als Service, versteht sich. Das Problem ist, dass sie damit selbst bestimmen, welche Informationen geheim bleiben. Das macht sie zu Torwächtern, die sie nicht sein sollten. Den Filter müssen mehrere Stellen übernehmen können, die voneinander unabhängig sind. Prädestiniert für diese Aufgabe sind Journalisten, die Sachkenntnis haben und Rohdaten auf interessantes durchsuchen können.
Was die Beteiligungsbereitschaft angeht, ist sie optimistisch, dass Menschen mit ihren Beteiligungsmöglichkeiten wachsen, wobei Bildung eine Schlüsselfunktion zukomme. Die Berliner Piratenfraktion ist allerdings auch dazu übergegangen, anstehende Entscheidungen nur dann in das Online-Beteiligungssystem „Liquid Feedback“ einzustellen, wenn dies ein Teilnehmer wünscht (weil sonst die Relevanzschwelle für eine Abstimmung erfahrungsgemäß ohnehin nicht überschritten wird).
Transparenz auch für politische Gegner
Der Befürchtung, der politische Gegner könne Informationen über unsere Willensbildung gegen uns verwenden, hält Marina entgegen:
Es gab ja nur zwei Möglichkeiten. Geheimagent spielen und unsere Ideen hüten – oder das tun, was wir tun wollten, seit diese Partei gegründet wurde. Wissen teilen. […] Wenn die grauen Männer dann in ihren Reden plötzlich von Plattformneutralität reden – ist doch cool.
Der Wert von Transparenz überwiegt für Marina also im Grundsatz den Wunsch, politische Vorteile durch Geheimhaltung von Informationen zu erzielen. Grenzen von Transparenz erkennt Marina allerdings im Bereich des Datenschutzes an und wo eine Veröffentlichung dem Staat schaden würde, beispielsweise bei Plänen zur Landesverteidigung. Außerdem nennt sie Absprachen für anstehende politische Verhandlungen als legitimen Grund, den vereinbarten Verhandlungsspielraum erst mit Abschluss der Verhandlungen zu veröffentlichen. Dass überhaupt Verhandlungen stattfinden und worüber, soll aber veröffentlicht werden – auch bei Koalitionsverhandlungen.
Beteiligungskultur statt Shitstorms
Oft schade die Öffentlichkeit ihrem Anliegen von Transparenz allerdings selbst: Wenn Informationsweitergabe zu unsachlichen oder beschimpfenden Reaktionen führe, vermindere sich die Bereitschaft von Politikern zur Veröffentlichung und halte man Menschen unter Umständen sogar ganz davon ab, sich politisch zu engagieren.
Der offene Politiker hat keine Chance, er wird fertiggemacht. Wenn es ihm nicht scheißegal ist, was ihr von ihm haltet, wird er fertiggemacht. Von euch. Also schaffen es nur Leute an die Spitze, denen ihr egal seid. Und darüber wundert ihr euch dann.
Transparenz setze einen verantwortungsbewussten Umgang der Öffentlichkeit mit Informationen ebenso voraus wie Fehlertoleranz. Eine Kultur der Transparenz könne allerdings auch helfen, die Beteiligungskultur positiv zu gestalten. Wenn Kritiker erleben, gehört zu werden, ohne erst „brüllen“ zu müssen, schaffe dies in den meisten Fällen Sachlichkeit.
Staatsverschuldung verschleiert Ausgaben
Aus dem Transparenzgrundsatz leitet Marina ein hochinteressantes Plädoyer gegen Staatsverschuldung her:
Momentan erlauben wir es allerdings, dass Ausgaben, die jetzt eine Regierung gut dastehen lassen, erst in der Zukunft von allen durch hohe Steuern bezahlt werden müssen. Das ist für die Verantwortlichen eine große Versuchung. Wenn Regierungen viel Geld ausgeben wollen, kann das gut sein. Ich würde mir wünschen, dass mehr Geld in Bildung und neue Energien bezahlt werden. Aber es erscheint mir ehrlicher und sinnvoller, wenn wir zu den Ausgaben, die wir als Staat tätigen, Steuern brauchen. Dann können wir auch besser beurteilen, was uns diese Investitionen wert sind und auf was wir lieber verzichten wollen. Wenn ein Land für seine Ausgaben auch gleichzeitig die Steuern auftreiben muss, ist die Bewertung direkter und klarer, als wenn wir über Kreditzahlungen und Zinsen dafür bezahlen müssen. Politiker, die uns bestimmte Leistungen versprechen, müssen dann auch die Belastungen, die wir dadurch tragen müssen, vertreten. Wenn wir mit höheren Steuern für diese Leistungen zahlen, dann können wir uns überlegen, wie diese gerecht verteilt werden sollen. Wenn wir stattdessen Schulden machen, dann leiht sich der Staat das Geld von denen, die welches haben, und in der Zukunft zahlen wir es ihnen mit Zinsen zurück. Von Staatsschulden profitieren also einige Leute, während andere die Kredite abzahlen müssen, auch wenn die Leistungen vielleicht noch vor ihrer Geburt erbracht wurden. Vielleicht kommen wir durch bessere Abgaberegeln einer gerechteren und ehrlicheren Politik näher. Vor allem aber ist der Zusammenhang zwischen Geldausgaben und -einnahmen auch eine praktische Form der Transparenz, durch die wir das Verständnis der Menschen erhöhen, was politische Forderungen betrifft.
Insgesamt erscheint mir Marinas Transparenzverständnis vorbildlich und ich kann ihr Buch nur empfehlen.
Marina Weisband: Wir nennen es Politik. Ideen für eine zeitgemäße Demokratie. Tropen Verlag, Stuttgart 2013, ISBN 9783608503197. Gebunden, 173 Seiten, 16,95 EUR.
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