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Drei Jahre digitaler Freiheitskampf in Brüssel – Piraten wirken!

Europaparlament Freiheit, Demokratie und Transparenz

Vor drei Jahren bin ich dank 240.000 Stimmen für die Piratenpartei und vom Bundesverfassungsgericht gekippter Sperrklausel ins Europäische Parlament eingezogen. Drei bewegende Jahre, in denen sich mein Team und ich gegen die volle Wucht der Überwachungs- und Datenverwertungswut der von der Leyen-Kommission gestemmt haben. Nach einer Mitgliederbefragung in meiner Partei hatte ich gegen die Wahl von „Zensursula“ gestimmt, die schon als Bundestagsabgeordnete die verfassungswidrige Vorratsdatenspeicherung unterstützt hatte und zu den Themen Lobbyismus, Transparenz und Bürgerbeteiligung schweigt. In der Ablehnung von „Zensursula“ bin ich mir mit den drei tschechischen Piratenabgeordneten einig. Unsere enge Zusammenarbeit und grenzüberschreitende Arbeitsteilung kennzeichnet die Arbeit der Piratenbewegung im Europaparlament. Auch ich bin stolz darauf, dass wir Piraten in Tschechien inzwischen in der Regierung sind und den Außen- und Digitalminister stellen. Das ist besonders hilfreich im nächsten Halbjahr, wenn Tschechien die EU-Ratspräsidentschaft innehat und für den Rat verhandelt.

Eine Konstante seit meiner Wahl ist: Unsere Grund- und Freiheitsrechte im digitalen Zeitalter werden europaweit angegriffen und abgebaut. Die Industrie, die EU-Kommission und die Regierungen der Mitgliedsstaaten verfolgen ganz andere Interessen als die Netzgemeinde und Bürgerrechtsbewegung. Und trotzdem konnte ich im Kampf gegen Überwachungs- und Durchleuchtungswut Erfolge erzielen, auf die wir als kleine Partei stolz sein können.

Großer Erfolg: EU-Parlament fordert Verbot von biometrischer Massenüberwachung

Im Oktober 2021 lehnte eine große Mehrheit der EU-Abgeordneten biometrische Gesichtserkennung und andere Formen biometrischer Massenüberwachung im öffentlichen Raum ab. Änderungsanträge der Konservativen wurden abgelehnt. Die Abstimmung war für uns ein entscheidender Meilenstein im Kampf gegen den diskriminierenden Einsatz von Massenüberwachungsinstrumenten im öffentlichen Raum. Zuvor hatte ich mich auf vielen Ebenen für ein Verbot dieser hochgradig in die Privatsphäre eingreifenden und fehleranfälligen Technologien im öffentlichen Raum eingesetzt, denn biometrische Massenüberwachung verdächtigt zu Unrecht eine große Zahl unschuldiger Bürgerinnen und Bürger, diskriminiert systematisch unterrepräsentierte Gruppen und gefährdet unsere freie und vielfältige Gesellschaft. Ich habe eine Kampagne meiner Fraktion für ein Verbot biometrischer Massenüberwachung koordiniert, in deren Rahmen wir Studien und eine Kartierung beauftragt, Veranstaltungen ausgerichtet und ein kostenloses Videospiel bereit gestellt haben (biometric outrun) – testet das mal, es ist gar nicht so einfach, den Scannern zu entkommen!

Die klare Botschaft des Parlaments, im geplanten Gesetz über künstliche Intelligenz die Warnungen der Zivilgesellschaft ernst zu nehmen und die biometrische Massenüberwachung im öffentlichen Raum zu verbieten, war für mich und mein Team ein großer Erfolg. Nun hat es für uns vier Piraten-Europaabgeordnete in Brüssel höchste Priorität, ein solches Verbot auch im zurzeit verhandelten Artificial Intelligence Act (AIA), dem zukünftig wichtigsten Gesetz zur Regulierung künstlicher Intelligenz, zu verankern und gegen die nationalen Regierungen durchzusetzen. Im Parlament gibt es offenbar eine Mehrheit für ein Verbot biometrischer Massenüberwachung. Entscheiden werden aber die Verhandlungen mit den nationalen Regierungen im nächsten Jahr. Diese lehnen ein solches Verbot bisher strikt ab.

Am besten lernen Entscheidungsträger:innen oft, was Überwachung bedeutet, wenn sie selbst davon betroffen sind. Deswegen war es ein großer Erfolg, dass das Parlament im Mai 2022 mit großer Mehrheit ein Projekt der Parlamentsverwaltung abgelehnt hat, Fingerabdrücke aller Abgeordneten für ein “biometrisches Anwesenheitsregister” zu erfassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die massenhafte Verarbeitung biometrischer Daten zur neuen Normalität wird!

Digitale-Dienste-Gesetz: Kampf gegen Industrie- und Regierungsinteressen

Als Berichterstatter für den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten (LIBE) habe ich bei den Trilog-Verhandlungen zum Digitale-Dienste-Gesetz (engl. Digital Services Act) für digitale Bürgerrechte gekämpft – leider größtenteils erfolglos. Die EU-Regierungen im Rat schalteten aus Industrie- und Regierungsinteressen auf stur, und das Parlament nahm dies für einen zügigen Verhandlungsabschluss hin. Wenigstens konnten wir Schlimmeres verhindern: Das wahllose Sammeln der Handynummern aller Uploader:innen auf Erwachsenenplattformen, das aufgrund absehbarer Datenhacks und Leaks die Privatsphäre der Nutzer und vor allem die Sicherheit von Sexarbeiter:innen gefährdet hätte, kommt nicht. Auch gegen Löschpflichten für Suchmaschinen wehrten wir uns erfolgreich. Und zumindest Minderjährige werden in Zukunft vor einer Durchleuchtung zur Einblendung gezielter Werbung geschützt.

Video: Patrick Breyer erklärt den Digital Services Act

Chatkontrolle 2.0: Noch können wir sie verhindern

Leider konnte ich die Einführung einer freiwilligen Chatkontrolle im Juli 2021 als Schattenberichterstatter der Grünen/EFA Fraktion nicht aufhalten. Dafür haben ich und meine Mitstreiter:innen aus Politik und Zivilgesellschaft es aber geschafft, mit gezielter Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit viel Aufmerksamkeit und Protest in Medien, Politik und Bevölkerung in Deutschland bei der Vorstellung der Pläne zur Einführung einer verpflichtenden Chatkontrolle zu wecken.

Die EU-Kommission musste die Präsentation aufgrund großer Mängel im Verordnungsentwurf immer wieder verschieben. Als das Gesetz im Mai 2022 dann endlich veröffentlicht wurde, war der Aufschrei in der Öffentlichkeit groß. Sogar der Deutsche Kinderschutzbund hat das von der EU-Kommission geplante anlasslose Scannen der privaten Kommunikation via Messenger oder E-Mail als unverhältnismäßig und nicht zielführend bezeichnet. Der Großteil des kinderpornographischen Materials werde vielmehr über Plattformen und Foren geteilt. Es brauche „vor allem den Ausbau der personellen und technischen Ressourcen bei den Strafverfolgungsbehörden, mehr sichtbare Präsenz von Polizei im Netz, mehr staatliche Meldestellen sowie die Entkriminalisierung von der Verbreitung selbstgenerierten Materials unter Jugendlichen“.

Mit chatkontrolle.de stelle ich eine ausführliche Informationsseite zum Thema zur Verfügung. Ein von mir in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten einer ehemaligen EuGH-Richterin belegt, dass die geplante Chatkontrolle grundrechtswidrig ist. Jetzt gilt es, ein parteiübergreifendes zivilgesellschaftliches Bündnis gegen die Chatkontrolle zu schmieden – in Deutschland und international!

TERREG: Anschlag auf die Meinungsfreiheit

Auch bei der umstrittenen EU-Verordnung zur Verhinderung der Verbreitung terroristischer Inhalte im Internet (TERREG), die es nationalen Behörden ermöglichen soll, vermeintlich terroristische Internetinhalte ohne richterliche Anordnung innerhalb einer Stunde löschen zu lassen – auch wenn sie in einem anderen Mitgliedsstaat veröffentlicht wurden, konnte ich als Verhandlungsführer meiner Fraktion Grüne/EFA einige wichtige Teilerfolge erzielen, wie z.B. die Verhinderung einer Pflicht zum Einsatz fehleranfälliger Uploadfilter, dem gesonderten Schutz von Journalismus, Kunst und Wissenschaft und einer Ausnahme für kleine und nichtkommerzielle Plattformen von der 1-Stunden-Löschfrist. Problematisch bleibt die TERREG-Verordnung leider trotzdem.

Digitales Lernen während der Pandemie

Behindert das Urheberrecht Schulen, Unis und Forschung in der Covid-19-Pandemie? Der Vorschlag von Felix Reda und mir, das untersuchen zu lassen, hat eine Mehrheit bekommen und wird aufgegriffen. Hintergrund: Der digitale Verleih und die Digitalisierung von Büchern sind rechtlich zugelassen, aber in der Praxis sind benötigten Bücher noch immer selten digital verfügbar. Schlimm, wenn Bibliotheken pandemiebedingt geschlossen sind. Im Rahmen des Pilotprojekts kann nun untersucht werden, welche praktischen Verbesserungen erforderlich sind, damit Bibliotheken die Ausnahmeregelung für die öffentliche Ausleihe von E-Books in der Praxis auch wirklich nutzen können.

Übrigens rufe ich regelmäßig öffentlich zu Projektvorschlägen auf. Alle können ihre Ideen einbringen.

Stoppt die Vorratsdatenspeicherung!

Die allgemeine und anlasslose Vorratsspeicherung von Informationen über Kontakte, Bewegungen und Internetnutzung der gesamten Bevölkerung stellt einen beispiellosen Angriff auf unser Recht auf Privatsphäre dar und ist die tiefgreifendste Spielart der Massenüberwachung. Sie erfasst hochsensible Informationen über unser tägliches Leben und schließt niemanden aus. Nach Nichtigerklärung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung konnten wir einen neuen Anlauf bisher verhindern. EU-Kommission und EU-Regierungen planen ihn hinter verschlossenen Türen aber bereits.

Eine von mir in Auftrag gegebene Studie weist nach, dass die Vorratsdatenspeicherung der Telefon-, Mobiltelefon- und Internetnutzung in keinem EU-Land einen messbaren Einfluss auf die Kriminalitätsrate oder die Aufklärungsquote hat. Eine von mir beauftragte Meinungsumfrage (Zusammenfassung, Volltext) in neun EU-Staaten hat ergeben, dass Vorratsdatenspeicherung massive gesellschaftliche Probleme verursacht, weil sie von vertraulicher Kommunikation abschreckt – und dass sie verbreitet auf Ablehnung stößt.

In einem von mir in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten stellt der ehemalige EU-Richter Prof. Dr. iur. Vilenas Vadapalas fest, dass zwei der am weitesten verbreiteten Methoden der Vorratsdatenspeicherung (nationale Sicherheit, geografische Begrenzung) “nicht mit der Rechtsprechung des EuGH und den Grundrechten vereinbar” sind. Eine Zusammenfassung findet sich hier.

Nominierung von Julian Assange für den Friedensnobelpreis

Im Januar 2022 habe ich gemeinsam mit meinen drei tschechischen Mitstreiter:innen der Piraten im Europäischen Parlament dem norwegischen Nobelpreiskomitee die Nominierung von Julian Assange für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Für die Piraten ist der Fall Assange, der derzeit in Großbritannien inhaftiert ist, ein Symbol für die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und des Rechts der Öffentlichkeit auf Information.

Meine juristischen Erfolge

Im Januar 2021 hat der Europäische Gerichtshof auf meine Klage hin ein Grundsatzurteil von großer Bedeutung für die von der EU finanzierte „Sicherheitsforschung“ gefällt (Rechtssache T-158/19). Im Rahmen des Projekts „iBorderCtrl“ ließ die EU den Einsatz vermeintlicher “Video-Lügendetektor”-Technologie an Reisenden erproben. Ich hatte am 15. März 2019 Klage auf Herausgabe unter Verschluss gehaltener Dokumente über die ethische Vertretbarkeit, die rechtliche Zulässigkeit und die Ergebnisse der Technologie eingereicht. Dem Gerichtsurteil zufolge darf die EU-Forschungsagentur diese Unterlagen nicht länger vollständig geheim halten. Veröffentlicht werden müsse etwa die ethische und juristische Bewertung von Technologien zur „automatischen Täuschungserkennung“ oder automatisierten „Risikobewertung“, soweit sie sich nicht speziell auf das iBorderCtrl-Projekt beziehen. Zum Schutz kommerzieller Interessen geheim gehalten werden dürften hingegen die Prüfung der ethischen Risiken (z.B. Risiko der Stigmatisierung und Falschmeldungen) und der rechtlichen Zulässigkeit der konkreten iBorderCtrl-Technologie sowie Berichte über die Ergebnisse des Projekts. Gegen diese weiterhin bestehende Intransparenz bin ich in Berufung gegangen. Durch das Verfahren konnte ich immer wieder kritische Berichterstattung erreichen. In der geplanten KI-Verordnung könnten Video-Lügendetektoren verboten werden.

Einen weiteren wichtigen Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht habe ich im Juli 2020 erzielt: Ermittler dürfen nicht ohne Anlass auf die Identität von Internet- und Handynutzern zugreifen. Damit erklärte das Gericht Teile der Bestandsdatenauskunft für verfassungswidrig. Das Urteil folgte einer Sammel-Verfassungsbeschwerde gegen den staatlichen Zugriff auf Passwörter und die Identität von Internetnutzerinnen und -nutzern (sogenannte Bestandsdatenauskunft, Az. 1 BvR 1873/13, 1 BvR 2618/13). Diese wurde 2013 von mir und Katharina Nocun als Erstbeschwerdeführer neben 6.373 weiteren Bürgerinnen und Bürgern erhoben. 

Ausblick

Bis zur nächsten Europawahl werde ich noch die geplante „Europäische Digitale Identität“ (Stichwort: Personenkennziffer), die Verordnung über das Targeting politischer Werbung (Stichwort: Cambridge Analytica), die „Verordnung zur Schaffung eines europäischen Raums für Gesundheitsdaten“, die Verordnung über die Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (ePrivacy) und die Chatkontrolle-Verordnung mit verhandeln.

Sperrklausel-Anschlag auf die Demokratie

Ob die deutsche Piratenpartei auch künftig in Brüssel die Menschenrechte im Zeitalter der Digitalen Revolution verteidigen kann, hängt davon ab, ob es den etablierten Parteien gelingt, sich die Sitze kleiner Parteien mithilfe einer Sperrklausel unter den Nagel zu reißen. Die Ampelkoalition könnte eine Wahlrechtsänderung aus dem Jahr 2018 annehmen, die eine 2%-Sperrklausel vorsieht. Sie verhandelt zurzeit auch eine weitere Wahlrechtsänderung, mit der nach dem Vorschlag des Europaparlaments sogar eine 3,5%-Sperrklausel eingeführt werden soll. Über den Vorrang des Europarechts sollen mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit von Sperrklauseln ausgehebelt werden.

Mit der geplanten Sperrklausel von 3,5% wären bei der letzten Europawahl 3,1 Mio. Wählerstimmen für sechs kleine Parteien wie die Piratenpartei, Freie Wähler und die PARTEI wertlos verfallen und deren Parlamentssitze stattdessen an das politische Establishment gegangen. Die EU-Wahlrechtsreform darf nicht Vehikel für eigennützige Sperrklauselpläne der Regierungsparteien sein, die ihre eingebrochenen Wahlergebnisse kompensieren wollen!  Europa braucht mehr Mitbestimmung und politische Ideen, nicht weniger. Wer Millionen von Bürger:innen, die von den etablierten Parteien enttäuscht sind, keine andere Wahl lässt, treibt sie entweder in die Arme der AfD oder lässt sie insgesamt der Wahlurne den Rücken kehren. Beides schadet unserer Demokratie und gefährdet Europa.

Jetzt liegt es an uns, für Demokratie und Vielfalt im Parlament zu kämpfen. Im digitalen Zeitalter braucht Europa uns Piraten als digitale Freiheitskämpfer dringender denn je!