Europäischer Gerichtshof verhandelt verdachtslose Vorratsdatenspeicherung
Kommende Woche wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) unter anderem über das deutsche Gesetz zur verdachtslosen und flächendeckenden Vorratsspeicherung aller Verbindungs-, Standort- und Internetzugangsdaten verhandeln. Das Gesetz wurde gerichtlich einstweilen außer Kraft gesetzt. Eine neue Untersuchung des EU-Parlaments weist insgesamt sogar 28 eingereichte Klagen gegen Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung in der EU nach.
Der EU-Abgeordnete, Bürgerrechtler und Jurist Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei), der erfolgreich bereits gegen das erste Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung vor das Bundesverfassungsgericht gezogen war, kommentiert:
„Die Klage der SpaceNet AG wird die von Union und SPD verbrochene grundrechtswidrige Vorratsspeicherung aller Kontakte und Bewegungen in Deutschland stoppen. Das pauschale Sammeln von Metadaten aller Menschen macht uns im Grunde genommen nackt im System und verstößt fundamental gegen EU-Grundrechte. Das wahllose Anhäufen von sensiblen Informationen über soziale Kontakte (auch Geschäftskontakte), Bewegungen und das Privatleben (z.B. Kontakte zu Ärzt:innen, Anwält:innen, Betriebsrät:innen, Psycholog:innen, Beratungsstellen etc.) von Millionen unverdächtiger Bürger*innen ist eine radikale Maßnahme der Massenüberwachung.
Leider hat der EuGH inzwischen aber nachgegeben und eine IP-Vorratsdatenspeicherung erlaubt, mit deren Hilfe unsere Online-Aktivitäten über Monate ausgeschnüffelt werden könnten. Dabei wissen wir längst, dass Gesetze zur flächendeckenden Vorratsspeicherung in keinem EU-Land einen messbaren Einfluss auf die Kriminalitätsrate oder die Aufklärungsquote haben, dass Datenabfragen auch ohne Vorratsdatenspeicherung selten erfolglos bleiben, dass die Aufklärungsquote gerade von Internetdelikten in Deutschland mit 58,6% schon ohne IP-Vorratsdatenspeicherung überdurchschnittlich hoch ist und nach Einführung des ersten Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung sogar gesunken ist. Kein anderes Überwachungsgesetz greift so tief in unsere Privatsphäre ein, wie eine unterschiedslose Vorratsspeicherung unserer alltäglichen Aktivitäten.
Dass EU-Kommission und EU-Regierungen hinter verschlossenen Türen bereits wieder einen neuen Vorstoß planen, ist skandalös. Ein EU-Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung würde nicht nur die nationalen Parlamente umgehen, sondern auch die nationalen Verfassungsgerichte. Damit droht erneut eine ‚Politikwäsche‘ auf EU-Ebene, gesteuert aus dem Hinterzimmer und ohne dass die EU-Regierungen die Verantwortung dafür übernehmen müssen.“
Hintergrund
Am 13. September findet die EuGH-Anhörung im Fall des Internetproviders SpaceNet statt, um die Frage zu klären, ob die anlasslose und flächendeckende Speicherpflicht von Verkehrs- und Standortdaten in Deutschland mit dem Unionsrecht – unter anderem der EU-Grundrechte-Charta – vereinbar ist. Die Münchener SpaceNet AG klagt bereits seit April 2016 gegen das umstrittene Überwachungsinstrument. Vor dem Verwaltungsgericht (VG) Köln war die SpaceNet AG zuletzt erfolgreich: Es entschied am 20. April 2018, dass die anlasslose Vorratsdatenspeicherung gegen EU-Recht verstoße. Das Bundesverwaltungsgericht ist anderer Meinung. Nun soll der Europäische Gerichtshof entscheiden.
Am Tag darauf (14. September) wird ein französischer Fall angehört, bei dem es um die Zulässigkeit von Beweisen geht, die durch illegale Vorratsdatenspeicherung gewonnen wurden.
Im Juli 2020 wurde ein geleaktes Diskussionspapier bekannt, demzufolge die Europäische Kommission an Szenarien zur europaweiten Wiedereinführung einer verdachtslosen und flächendeckenden Vorratsdatenspeicherung von Verbindungs-, Bewegungs- und Internetverbindungsdaten arbeitet. Erstmals könnten auch Messenger- und Videokonferenzdienste Nutzer identifizieren und ihre Kontakte auf Vorrat speichern müssen.
EPRS-Untersuchung
Eine bisher unveröffentlichte Untersuchung des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (EPRS) im Auftrag von Breyer hat ergeben, dass es seit 2009 mindestens 28 Klagen gegen Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung in der EU gegeben hat. In 13 dieser Fälle konnten die Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung eingeschränkt oder für ungültig erklärt werden, in 3 Fällen steht das Urteil noch aus.
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